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Eine Mittelgewichts-Ehe

Eine Mittelgewichts-Ehe

Titel: Eine Mittelgewichts-Ehe
Autoren: John Irving
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kleines Mädchen. Ihre Mutter wußte, daß die Russen schrecklich zu Frauen und freundlich zu Kindern waren, aber sie wußte nicht, ob sie Utsch als Frau oder als Kind betrachten würden. Die Russen kamen durch Ungarn und von Norden her und wüteten besonders in Wiener Neustadt und Umgebung, wegen des Messerschmitt-Werkes und all der hohen Offiziere der Luftwaffe, die sie dort vorfanden.
    Utschs Mutter brachte Utsch in den Kuhstall. Es waren nur noch acht Kühe übrig. Sie ging zur größten Kuh hinüber, deren Kopf in ihrem Fanggatter feststeckte, und schnitt ihr die Kehle durch. Als die Kuh tot war, machte sie den Kopf vom Fanggatter los und wälzte die Kuh auf die Seite. Sie schnitt den Bauch der Kuh auf, zog die Eingeweide heraus und säbelte den Anus heraus und bedeutete Utsch sodann, sich zwischen den ausgehöhlten Rippenbögen der großen Kuh hinzulegen. Sie stopfte so viele von den Innereien in die Kuh zurück, wie hineinpaßten, und brachte den Rest nach draußen in die Sonne, wo sie Fliegen anlocken würden. Sie schloß die aufgeschlitzten Bauchlappen der Kuh wie einen Vorhang um Utsch; sie sagte Utsch, sie könne durch den herausgeschnittenen Anus der Kuh atmen. Als die Gedärme, die in der Sonne gelegen hatten, Fliegen anlockten, brachte Utschs Mutter sie in den Kuhstall zurück und verteilte sie auf dem Kopf der toten Kuh. Mit den um ihren Kopf schwirrenden Fliegen sah die Kuh so aus, als sei sie schon lange tot.
    Dann sprach Utschs Mutter durch das Arschloch der Kuh mit Utsch. »Rühr dich nicht und mach keinen Mucks, bis jemand dich findet.« Utsch hatte eine mit Kamillentee und Honig gefüllte, große, schlanke Weinflasche und einen Strohhalm. Davon sollte sie trinken, wenn sie durstig war.
    »Rühr dich nicht und mach keinen Mucks, bis jemand dich findet«, sagte Utschs Mutter.
    Utsch lag zwei Tage und zwei Nächte lang im Bauch der Kuh, während die Russen das Dorf Eichbüchl verwüsteten. Sie schlachteten alle anderen Kühe im Stall, und sie brachten auch ein paar Frauen in den Stall, und sie schlachteten dort außerdem ein paar Männer, aber der toten Kuh mit Utsch darin kamen sie nicht zu nahe, weil sie meinten, die Kuh sei schon lange tot und ihr Fleisch sei verdorben. Die Russen benutzten den Stall für eine Menge Scheußlichkeiten, aber Utsch machte keinen Mucks und rührte sich nicht im Bauch der Kuh, wo ihre Mutter sie untergebracht hatte. Selbst als ihr der Kamillentee ausging und die Innereien der Kuh trockneten und um sie herum hart wurden - und all die glitschigen Gedärme an ihr festklebten -, rührte Utsch sich nicht und machte keinen Mucks. Sie hörte Stimmen; es war nicht ihre Sprache, und sie gab keine Antwort. Die Stimmen klangen angewidert. Die Kuh wurde angestochen; die Stimmen stöhnten. An der Kuh wurde gezerrt und geruckt; die Stimmen grunzten - manche Stimmen würgten. Und als die Kuh hochgezogen wurde - die Stimmen machten hau ruck! -, glitschte Utsch in einer klebrigen Masse heraus, die in den Armen eines Mannes mit schwarzem Schnurrbart und rotem Stern an seiner grau-grünen Mütze landete. Er war Russe. Er fiel mit Utsch in den Armen auf die Knie und schien ohnmächtig zu werden. Andere Russen um ihn herum nahmen ihre Mützen ab; sie schienen zu beten. Jemand brachte Wasser und wusch Utsch. Ironischerweise waren sie die Sorte Russen, die freundlich zu Kindern waren, und hielten Utsch keineswegs für eine Frau; tatsächlich hielten sie sie zunächst für ein Kalb.
    Nach und nach wurde klar, was geschehen war. Utschs Mutter war vergewaltigt worden. (Fast jedermanns Mutter und Tochter waren vergewaltigt worden. Fast jedermanns Vater und Sohn waren umgebracht worden.) Dann hatte eines Morgens ein Russe beschlossen, den Stall niederzubrennen. Utschs Mutter hatte ihn angefleht, es nicht zu tun, aber ihre Verhandlungsposition war schwach; sie war schon vergewaltigt worden. So war sie gezwungen gewesen, den Russen mit einem Feldspaten umzubringen, und ein anderer Russe war gezwungen gewesen, sie zu erschießen.
    Nach und nach reimten die Russen es sich zusammen. Das mußte das Kind dieser Frau sein, die nicht gewollt hatte, daß der Stall niedergebrannt wurde, und zwar weil ... Der Russe, der die glitschige Utsch mit den Armen aufgefangen hatte, als die verwesende Kuh auf einen Lastwagen geworfen wurde, kam darauf. Außerdem war er Offizier, ein Georgier von den Ufern des aalglatten Schwarzen Meeres; man hat dort eigenartige Redewendungen und haufenweise Slangausdrücke. Einer
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