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Eine Mittelgewichts-Ehe

Eine Mittelgewichts-Ehe

Titel: Eine Mittelgewichts-Ehe
Autoren: John Irving
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1.
Der Engel namens
»Das Lächeln von Reims«
    Meine Frau Utschka (deren Namen ich vor einiger Zeit zu Utsch verkürzt habe) könnte einer Zeitbombe Geduld beibringen. Mit etwas Glück hat sie mir ein bißchen beigebracht. Utsch, so könnte man sagen, lernte unter Zwang Geduld. Sie wurde 1938, im Jahr des Anschlusses, in Eichbüchl, Österreich, geboren - einem kleinen Dorf außerhalb der proletarischen Stadt Wiener Neustadt, die eine Autostunde von Wien entfernt liegt. Als sie drei war, wurde ihr Vater als bolschewistischer Saboteur umgebracht. Es ist unbewiesen, daß er Bolschewist war, aber er war ein Saboteur. Bis zum Ende des Krieges wurde Wiener Neustadt zur größten Landebahn in Europa und zum unfreiwilligen Standort der deutschen Messerschmitt-Fabrik. Utschs Vater wurde 1941 umgebracht, als man ihn dabei erwischte, wie er auf der Rollbahn von Wiener Neustadt Messerschmitts in die Luft sprengte.
    Die örtliche SS-Standarte von Wiener Neustadt stattete Utschs Mutter in Eichbüchl einen Besuch ab, nachdem Utschs Vater erwischt und umgebracht worden war. Die SS-Männer sagten, sie seien gekommen, um das Dorf vor der »Saat des Verrats« zu warnen, die in Utschs Familie offenbar reichlich aufging. Sie sagten den Dorfbewohnern, sie sollten Utschs Mutter sehr genau im Auge behalten, um sicherzugehen, daß sie keine Bolschewistin war wie ihr verstorbener Mann. Dann vergewaltigten sie Utschs Mutter und stahlen aus dem Haus eine hölzerne Kuckucksuhr, die Utschs Vater in Ungarn gekauft hatte. Eichbüchl liegt ganz dicht an der ungarischen Grenze, und der ungarische Einfluß ist überall erkennbar.
    Einige Monate nachdem die SS abgezogen war, wurde Utschs Mutter erneut vergewaltigt, und zwar von einigen Männern aus dem Dorf, die, als man sie wegen ihrer Gewalttat verhörte, behaupteten, sie hätten sich an die Anweisungen der SS gehalten: Utschs Mutter sehr genau im Auge zu behalten, um sicherzugehen, daß sie keine Bolschewistin war. Sie wurden nicht unter Anklage gestellt.
    1943, als Utsch fünf war, verlor Utschs Mutter ihre Stelle in der Klosterbibliothek im nahegelegenen Katzelsdorf. Man deutete an, daß sie Jugendlichen entartete Bücher andrehen könnte. Tatsächlich war sie des Bücherdiebstahls schuldig, aber dessen bezichtigten sie sie nie, noch kamen sie je dahinter. An das kleine Steinhaus, in dem Utsch geboren wurde - am Ufer eines Flusses, der durch Eichbüchl fließt -, schloß sich ein Hühnerstall an, den Utschs Mutter versorgte, und ein Kuhstall, den Utsch seit ihrem fünften Lebensjahr täglich ausmistete. Das Haus war voller gestohlener Bücher; es war eigentlich eine theologische Bibliothek, obwohl sich Utsch ihrer eher als einer Kunstbibliothek erinnert. Die Bücher waren riesige, plakatgroße Register der Kirchen- und Kathedralenkunst - Bildhauerei, Architektur und Kirchenglas - von einiger Zeit vor Karl dem Großen bis zum späten Rokoko.
    Am frühen Abend, wenn es dunkel wurde, half Utsch ihrer Mutter die Kühe melken und die Eier einsammeln. Die Dorfbewohner bezahlten die Milch und die Eier mit Wurst, Decken, Kohl, Holz (selten Kohle), Wein und Kartoffeln.
    Glücklicherweise war Eichbüchl weit genug von dem Messerschmitt-Werk und der Landebahn in Wiener Neustadt entfernt, um den meisten Bombenangriffen zu entgehen. Bei Kriegsende warfen die alliierten Flugzeuge auf diese Fabrik und diese Landebahn mehr Bomben ab als auf jedes andere Ziel in Österreich. In der verdunkelten Nacht lag Utsch in dem Steinhaus bei ihrer Mutter und hörte das Rums! Rums! Rums! der in Wiener Neustadt fallenden Bomben. Manchmal flog ein angeschossenes Flugzeug niedrig über das Dorf, und einmal wurde zur Blütezeit Haslingers Apfelgarten bombardiert; die Erde unter den Bäumen war mit Apfelblütenblättern dichter als Hochzeitskonfetti übersät. Das geschah, bevor die Bienen die Blüten befruchtet hatten, und so war die HerbstApfelernte ruiniert. Frau Haslinger wurde vorgefunden, wie sie mit einer Heckensichel auf sich einhackte, im Mostkeller, wo man sie mehrere Tage lang einschließen mußte - gefesselt in einer der großen, kühlen Apfelhorden, bis sie wieder zur Besinnung kam. Während ihres Eingesperrtseins, behauptete sie, sei sie von einigen Männern aus dem Dorf vergewaltigt worden, aber man hielt das für ein Hirngespinst aufgrund ihrer Geisteszerrüttung beim Verlust der Apfelernte.
    Es war kein Hirngespinst, als die Russen 1945, als Utsch gerade sieben war, nach Österreich kamen. Sie war ein hübsches
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