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Nur die Liebe bleibt

Titel: Nur die Liebe bleibt
Autoren: Stefanie Zweig
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Stefanie Zweig Nur die Liebe bleibt
    © 2006
    Erinnerungen sind Wunden, die nie verheilen.
    Leb wohl für immer!
    Breslau, 8. Januar 1938
    »Ihr geht jetzt am besten«, sagte Walter Redlich. »Sie muss mich ja nicht abfahren sehen. Ein kurzer Abschied wird es uns allen leichter machen. Mir auf alle Fälle.«
    »Mir nicht«, sagte Regina. Vater, Mutter, Großmutter und Tante schauten die Fünfjährige erschrocken an, doch keiner sagte ein Wort.
    Die Bahnhofsuhr zeigte neun Uhr zweiunddreißig. Am Bahnsteig sieben wartete außer Walter und den Seinen nur eine Handvoll Reisender. Zwei Männer mit gleichen Aktentaschen und gleichen Koffern blätterten zeitgleich in kleinen schwarzen Notizbüchern. Sie redeten auffallend leise miteinander und machten den Eindruck, sie würden selbst für kurze Strecken nicht in der dritten Klasse reisen. Die Vorstellung, ihnen nach der Abfahrt nicht mehr begegnen zu müssen, erleichterte Walter.
    Ein junges Ehepaar mit so umfangreichem Gepäck, wie es wohl nur Reisende ohne Furcht vor Menschen in Uniform mitzunehmen wagten, schaukelte abwechselnd ein weinendes Baby. Das Kind schaute aus einem hohen Korbwagen heraus; Walter war ganz sicher, es würde im selben Abteil landen - ganz gleich, ob der Zug voll belegt war oder halb leer. Er hatte da ein persönliches Gesetz der Serie entwickelt. Heulende Kleinkinder reis-
    ten grundsätzlich im selben Abteil wie er, entweder auf dem Platz neben ihm oder gegenüber, und fast alle hatten sie das Verlangen, ihre Fingerchen an seiner Hose abzuwischen. Nur war es das erste Mal in seinem Leben, dass ihm ein schreiendes Baby als Reisegenosse viel angenehmer erschien als zwei seriöse Männer mittleren Alters. Sosehr Walter den Gedanken zu unterdrücken versuchte, erinnerten ihn deren dunkle Mäntel und ihre tief in die Stirn gezogenen Hüte an die Gestapo.
    Am Ende des Bahnsteigs hatte sich eine Gruppe Halbwüchsiger formiert. Sie trugen alle die gleichen Hosen und dunkelbraune Hemden, zwar militärisch geschnitten mit Achselklappen und großen Taschen, aber nicht mit der Uniform der Hitlerjugend zu verwechseln. Trotzdem assoziierte Walter mit den schweigenden Jungen, die alle in die gleiche Richtung schauten, spontan einen Aufmarsch auf dem Leobschützer Ring. Es war ganz zu Beginn des Schreckens gewesen. Die hasserfüllten Texte der Schmählieder, die er da zum ersten Mal hörte, noch mehr jedoch der Umstand, dass Walter so manchen Jungen kannte, der nun grölend mitmarschierte und von dem er wusste, dass dessen Familie als anständig und fromm katholisch galt, hatte ihm ein für alle Mal den Glauben genommen, die Nazis würden nur ein kurzer Albtraum werden und dann für immer von der Bühne der Weltgeschichte verschwinden.
    Zu seinem Erstaunen beruhigte sich Walter schneller als sonst, wenn er an die letzten fünf Jahre dachte. Für einen kurzen Moment, ehe die Scham ihn versengte, dass er Jettel und das Kind für mindestens sechs Monate in Deutschland zurückließ, belebte ihn gar der Gedanke an die Zukunft. Wenn alles nach Plan und Wunsch verlief, würde Walter Redlich, der bis zum 30. Januar 1933 vor keinem Menschen in Deutschland Angst gehabt hatte, sich ab der österreichischen Grenze nicht mehr vor vierzehnjährigen Jungen in braunen Hemden fürchten. Auch würde er nicht mehr überlegen müssen, ob Männer mit dunklen Hüten und hochgeklapptem Mantelkragen von der Gestapo waren oder nur besonders empfindlich gegen den Ostwind im Breslauer Winter.
    »Es ist doch verdammt kalt heute«, sagte er. »Meine selige Mutter hat immer gesagt, wenn man friert, muss man sich warme Gedanken machen. Hätte ich sie bloß beizeiten gefragt, wo man die herkriegt.«
    »Deine Mutter muss eine kluge Frau gewesen sein«, sagte seine Schwiegermutter. »Es hätte sich gelohnt zu fragen.«
    Der Minutenzeiger hatte sich um vier Striche bewegt. Kroch die Zeit, oder konnte sie fliegen? Mit zwei schwarzen Flügeln, die sich als Uhrzeiger tarnten? Der Mann mit den belegten Brötchen und dem Obst auf dem weißen Karren, der Regina so faszinierte, weil der Wagen sehr hohe Räder hatte und über der Lenkstange ein roter Luftballon schwebte, war zu einem anderen Gleis weitergezogen. Der Zeitungsverkäufer, auf den Walter gesetzt hatte, um sich zum letzten Mal mit den Zeitungen der Heimat zu versorgen, war gar nicht erst erschienen. Es war auch nur ein einziger Gepäckträger da, und die ganze Zeit waren keine Reisenden mehr dazugekommen. Also war der Rat von Heini Wolf, nach
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