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Nur die Liebe bleibt

Titel: Nur die Liebe bleibt
Autoren: Stefanie Zweig
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nicht, glaub mir. Ich habe immer gedacht, bei einem großen Abschied spürt man den Schmerz.« »Musst du denn allein fahren? Dein Vater sagt auch, dass du verantwortungslos bist. Und störrisch wie ein alter Esel. Keiner lässt seine Frau und sein Kind in Deutschland zurück. Nur du tanzt wieder mal aus der Reihe.« »Jetzt nicht, Jettel. Jetzt nicht mehr. Wir brauchen gute Erinnerungen. Außerdem stimmt es nicht. Viele von uns versuchen, in der Fremde erst mal ohne die Familie Fuß zu fassen. Es wird sich bestimmt bald auszahlen, dass ich jede Arbeit annehmen kann und mich nicht um euch zu sorgen brauche. Wenn der liebe Gott noch Gebete zur Kenntnis nimmt, holen wir jeden einzelnen Krach nach. Diesen hier als ersten. Heilig Ehrenwort. Es wird nicht lange dauern, bis wir wieder loslegen können.«
    »Du bist ein Trottel. Das hat schon mein Onkel Eugen gesagt, als er erfahren hat, dass wir heiraten.«
    »Darf ich dich daran erinnern, dass dein kluger Onkel Eugen vor zwei Monaten abgereist ist und dass seine Frau noch hier sitzt?«
    »Ach du!«
    »Was reimt sich auf Neiße?«, fragte Regina, und als niemand ihr antwortete, sagte sie: »Scheiße«. Als das schöne Wort ohne Wirkung blieb, hüpfte sie über ein imaginäres Seil von rechts nach links und wieder zurück. Mit beiden Händen fing sie einen Ball, den nur sie sah. Nach einer Weile nuschelte sie einen Abzählreim, den ihr Vater ihr in den alten Tagen der Sorglosigkeit beigebracht hatte und der die Leute ebenso entsetzte, wenn sie ihn rezi-tierte, wie die Proben der väterlichen Reimkunst. »Was reimt sich auf Backe?«, fragte sie hoffnungsvoll.
    Aus dem D-Zug aus Frankfurt an der Oder stieg eine Mutter mit ihrem kleinen Sohn aus. Regina starrte die beiden an und lachte schallend. Der Bub war etwa in Reginas Alter. Er trug eine braune Pudelmütze, die ihm ins Gesicht gerutscht war, und drückte einen Stoffaffen an seine Brust - den gleichen, der in der Goethestraße auf einer mit grünem Plüsch bezogenen Recamier von Großmutter Ina thronte. Anders als der Stoffaffe auf dem Bahnhof, hatte der von Regina einen kleinen Brotbeutel aus hellem Leinen umgeschlungen. Ursprünglich war die Tasche für den Kindergarten bestimmt gewesen, doch sie würde nie ein Butterbrot und auch keinen Apfel sehen. Der Kindergarten, aus dem die kleine Waltraud aus der Nachbarwohnung jeden Mittag um halb eins mit fröhlichen Liedern und lustigen Gedichten heimkam, lehnte seit 1934 die Aufnahme jüdischer Kinder ab. »Es tut mir leid«, hatte die Leiterin bei Jettels vergeblichem Versuch gestammelt, ihre Tochter anzumelden, und für Regina, der kein Wort der Unterhaltung entgangen war, hatte sie ein Püppchen aus Wolle aus ihrer Rocktasche gezogen. Die Verlegenheit der Kindergärtnerin und die kleine Puppe galten in der Goethestraße als tröstlicher Beweis, dass nicht alle Menschen in Deutschland mit dem einverstanden waren, was im Namen Deutschlands geschah. »Noch längst nicht alle«, hatte Walter gesagt.
    Ein schnaufender Gepäckträger mit hoch beladenem Karren hastete auf Bahnsteig sieben. Seine Mütze fiel vom obersten Koffer herunter. Die junge Frau, die ihrem Gepäck folgte und in Abständen »Vorsicht, Vorsicht!« mahnte, trug einen schwingenden Mantel aus Nutria, auf dem der feuchte Schnee glänzte, und, farblich passend zu ihrem Hut mit einer Perlennadel, lange Handschuhe in einem zarten Lila.
    »So eine schöne Frau habe ich noch nie gesehen«, staunte Regina.
    »Die fährt bestimmt nach Berlin«, sagte Käthe. Es waren ihre Augen, nicht ihre Stimme, die ihre Sehnsucht verrieten, und obwohl man ihr so oft vorwarf, sie wäre oberflächlich, kurzsichtig und egoistisch, ließen diese schönen Augen wissen, dass Käthe durchaus spürte, wie bedroht die Zukunft der Ausgestoßenen war.
    »Mein Affe darf nicht in den Kindergarten«, erinnerte sich Regina, »aber die kleine Puppe war schon dort. Die hat gedarft.«
    »Über deinen Affen und die kleine Puppe sprechen wir zu Hause«, schlug ihre Großmutter vor. »Wir können ihnen ja eine Suppe kochen, nur wir beide. Aus Kartoffeln oder mit Zucker und Zimt?«
    »Es ist wirklich besser«, drängte Walter, »wenn ihr jetzt geht. Das haben wir doch gestern ausführlich besprochen. Wir müssen alle lernen, uns an das zu halten, was wir uns vorgenommen haben. Sonst kommt unser Leben noch mehr aus den Fugen, als es ohnehin schon ist.« »Ich will aber hier bleiben, bis du wegfährst«, trotzte Regina, »das hast du versprochen. Ich will
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