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Das gläserne Tor

Titel: Das gläserne Tor
Autoren: Sabine Wassermann
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    D as Wasser leuchtete, als seien Lampen darin versenkt. Langsam begann das kreisförmige Licht zu pulsieren, es schien im niederprasselnden Regen zu tanzen. Grazia traute ihren Augen nicht. Ein Licht in der Havel? Sie reckte den Kopf, um über das Schilf hinwegzublicken. Vielleicht spiegelte sich etwas von der gegenüberliegenden Seite? Aber dort erstreckte sich nur der dicht bewachsene Ufersaum.
    »Friedrich?«
    Sie drehte sich nach ihrem Verlobten um. Auf der kleinen Lichtung, zwischen Kiefern und Eichen, sah sie ihn bei der Grube stehen, gemeinsam mit dem Meier, der sie vorgestern ausgehoben hatte, als er zufällig auf einen menschlichen Knochen gestoßen war – und dabei möglicherweise einen der erstaunlichsten Funde in der Geschichte der Archäologie gemacht hatte. Die beiden Männer wirkten gehetzt, während sie sich im Wind plagten, eine Plane über die Grube zu breiten, damit möglichst wenig Wasser eindrang. Regen konnte so viel zunichte machen! Grazia biss sich ungeduldig auf die Lippe. Es war kein guter Augenblick, Friedrich zu stören.
    Sie beschloss, der Sache allein auf den Grund zu gehen. Also rückte sie nach einem Blick in den steingrauen Himmel ihren Schirm zurecht und machte sich auf den Weg zum Ufer. Ihre Stiefeletten versanken im Schlamm, und sie musste mit einer Hand das knöchellange cremefarbene Kleid raffen. Am Steg, der hinaus auf die Havel führte, blieb sie stehen. Die hölzernen Bohlen waren morsch und glitschig vom Regen. Vorsichtig setzte Grazia einen Fuß vor den anderen. Der Wind
riss an ihrem Kleid, peitschte den Regen trotz des Schirms in ihr Gesicht und ließ sie frösteln. Nein, das war zu viel des Guten, am Ende würde sie noch ausrutschen und ins Wasser fallen. Das seltsame Leuchten war immer noch da, dicht neben dem Steg, doch schwächer als eben noch. Großer Gott, was war das? Tatsächlich Lampen? Unter Wasser? Sie wusste ja, dass man jetzt, am Ende des neunzehnten Jahrhunderts, mit elektrischem Licht die unmöglichsten Dinge anstellen konnte, gar die Nacht zum Tage machen. Sogar der Kronleuchter im Salon ihrer Eltern war ans Stromnetz angeschlossen. Aber Glühlampen im Wasser? Oder was mochte es sonst sein? Die Insel war voller wunderlicher Geschichten. Einst hatte hier ein Glasgießer im Auftrag des Großen Kurfürsten geheime Experimente durchgeführt, wohl auch mit Phosphor. Aber das lag mehr als zweihundert Jahre zurück.
    Friedrich musste davon wissen. Sie kehrte zur Grabungsstätte zurück, wo die Männer Steine auf die Ränder der Ölplane legten. »Friedrich!«, rief sie gegen den Regen an. »Bitte komm, ich muss dir etwas zeigen!«
    Ungeduldig winkte er ab, als habe er sie nicht richtig gehört. »Wir sind hier für heute fertig. Bei diesem Mistwetter kann man ja nichts machen. Regen ist der Feind des Archäologen, er kann so viele wichtige Spuren zunichte machen.«
    Er ärgerte sich, das wusste sie. Kaum hatte der alte Meier, der auf der Insel wohnte, das Erdgrab entdeckt, hatte es nach all den sonnigen Spätsommerwochen angefangen, Schusterjungen zu regnen. Heute hatte Grazia ihren Verlobten begleitet, um sich die Grube anzusehen, aber kaum waren sie von der Fähre gestiegen, war wieder der schönste Wolkenguss im Gange. Friedrich warf einen ärgerlichen Blick zum Himmel. Dann zu ihr.
    »Geh zum Fährhaus, du wirst dich noch erkälten. Ich komme gleich nach.«

    Grazia wollte protestieren. Aber vielleicht war das Licht ja gar nicht mehr da? Oder sie hatte sich getäuscht? Besser, sie sah selbst noch einmal nach; nicht, dass sie ihn noch mehr verärgerte, weil sie ihn zum Ufer lockte, wo es nichts zu sehen gab. Sie lief zum Steg zurück. Das Licht war fort. Nein, ganz leicht schimmerte das Wasser noch. Eilig setzte sie einen Fuß auf das morsche Holz, um einen letzten Blick zu erhaschen, bevor es möglicherweise ganz schwand. Doch dann hielt sie inne.
    Auf dem Steg lag ein Mann. Und er war nackt.
    Unwillkürlich kniff sie die Augen zu. Dann sah sie wieder hin, weil sie es nicht glauben konnte. Er presste seine Hand auf den Brustkorb, der sich heftig hob und senkte. Ein Havelfischer, der sein Boot verloren und dann im Wasser die Kleider ausgezogen hatte? Grazia warf einen raschen Blick zurück. Von Friedrich war nichts zu sehen. Was sollte sie jetzt tun? Sie konnte sich doch unmöglich einem nackten Mann nähern? Aber er schien in Not zu sein, vollkommen erschöpft, also schritt sie allein über den Steg. Am Ende angelangt, hoffte sie, dass Friedrich nicht
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