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Eine Mittelgewichts-Ehe

Eine Mittelgewichts-Ehe

Titel: Eine Mittelgewichts-Ehe
Autoren: John Irving
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war er denn überhaupt gut?« fragte ich.
    »Na ja, er hat mehr gewonnen als verloren«, sagte Jones. »Bloß an mich ist er nicht rangekommen.«
    Ich spürte bei Jefferson Jones eine Einstellung, die Severin häufig auf mich ausstrahlte. Das Ego eines Ringers scheint noch lange, nachdem er für seine Gewichtsklasse zu schwer geworden ist, in Form zu bleiben. Vielleicht neigen sie wegen ihrer früheren Gewichtmacherei zu Übertreibungen. So ist es beispielsweise irreführend, Winter die Heldentaten seiner Vorfahren schildern zu hören.
    Seine Mutter war die Wiener Schauspielerin Katrina Marek. Soweit stimmt seine Geschichte. Katrina Mareks letzte Vorstellung im Ateliertheater in Wien fand am Donnerstagabend, den 10. März 1938 statt. Die Zeitungen behaupteten, sie sei eine »verblüffende« Antigone gewesen, was zu dieser Zeit eine passende Rolle für sie gewesen zu sein scheint; sie dürfte als Kostüm weite Gewänder benötigt haben, denn sie war im achten Monat mit Severin schwanger. Die Freitagsvorstellung wurde wegen ihres Nichterscheinens abgesagt. Das wäre dann der schwarze Freitag, der 11. März 1938, gewesen, der Tag, an dem der Anschluß beschlossen wurde, der Tag, bevor die Deutschen in Österreich einmarschierten. Katrina Marek erfuhr die Neuigkeit frühzeitig und brachte sich und ihren Fötus rechtzeitig außer Landes.
    Sie nahm ein Taxi. Anscheinend stimmt sogar so viel von Winters Geschichte. Sie nahm tatsächlich ein Taxi - sie, ihr Fötus und eine Mappe mit Zeichnungen und Gemälden ihres Mannes. Die Gemälde, Öl auf Leinwand, waren von den Keilrahmen abgenommen und zusammengerollt worden.
    Severins Vater, der Künstler, kam nicht mit. Er gab Katrina die Zeichnungen und Gemälde und sagte ihr, sie solle bis zur Schweizer Grenze das Taxi nehmen, einen Zug nach Belgien oder Frankreich nehmen, ein Schiff nach England nehmen, nach London gehen, die zwei oder drei Maler in London ausfindig machen, die seine Arbeit kannten, sie bitten, in London ein Theater ausfindig zu machen, das die österreichische Schauspielerin Katrina Marek engagieren würde, und jedem, der einen Beweis verlangte, wer sie sei, die Zeichnungen und zusammengerollten Leinwände zeigen. Sie sollte sagen: »Ich bin Katrina Marek, die Schauspielerin. Mein Mann ist der Wiener Maler Kurt Winter. Ich bin ebenfalls Wienerin. Sehen Sie, ich bin schwanger ...« Aber das konnte zweifellos jeder sehen, selbst wenn sie als Antigone kostümiert war.
    »Krieg bloß das Baby nicht, ehe du in London bist«, sagte Kurt zu Katrina. »Du wirst keine Zeit haben, ihm einen Paß zu besorgen.« Dann küßte er sie zum Abschied, und sie fuhr am schwarzen Freitag, dem Tag, bevor die Deutschen einfuhren, aus Wien hinaus.
    Unglaublicherweise erfaßte die erste Verhaftungswelle der Gestapo allein in Wien sechsundsiebzigtausend Menschen. (Da stiegen Katrina Marek und der ungeborene Severin Winter gerade in St. Gallen in einen Zug nach Ostende.) Und der Vater, der zurückblieb? Laut Severin blieb sein Vater zurück, weil er sich der Revolution verschrieben hatte, weil es immer noch etwas gab, was ein Held tun konnte. Beispielsweise fuhr jemand den wagemutigen, kriminellen Zeitungsverleger Lennhoff bei Kittsee über die ungarische Grenze - nachdem er von den Tschechen abgewiesen worden war. Wieder wurde ein Taxi benutzt. Kurt Winter hätte Lennhoffs Leitartikel über den deutschen Putsch noch zur Mittagszeit lesen und trotzdem ungestraft davonkommen können; Hitler war zur Mittagszeit erst in Linz. »Das war ganz schön knapp«, hat Severin Winter zugegeben. Das erste Mal, als er die Geschichte erzählte, hörte es sich so an, als sei sein Vater der Fahrer des Taxis gewesen, das Lennhoff nach Ungarn fuhr. Später wurde das verworren. »Nun ja, er hätte der Fahrer sein können«, sagte Winter. »Ich meine, er brauchte einen gewichtigen Grund, um zurückzubleiben, oder?«
    Und dann die Sache mit dem Tiergarten. Da habe ich die Fakten überprüft, und sie ist zumindest belegt.
    1945, kurz bevor die Russen Wien erreichten, wurde der gesamte Tiergarten aufgegessen. Natürlich waren, als die Menschen hungriger wurden, hier und da schon kleine Gruppen von Plünderern, zumeist nachts, mit einer Antilope oder einem Zebra entwischt. Wenn die Menschen am Verhungern sind, ist es irgendwo albern, all dieses Wild zu versorgen. Doch die Reservisten der Armee waren in dem großen, weitläufigen Tier- und botanischen Garten auf dem Gelände von Schloß Schönbrunn Tag und Nacht
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