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Die Tage des Regenbogens (German Edition)

Die Tage des Regenbogens (German Edition)

Titel: Die Tage des Regenbogens (German Edition)
Autoren: Antonio Skármeta
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EINS
    A m Mittwoch haben sie Señor Santos festgenommen.
    In diesen Zeiten nichts Ungewöhnliches. Nur dass Señor Santos unser Lehrer ist und mein Vater.
    Mittwochs haben wir in der ersten Stunde Philosophie, anschließend Turnen und dann eine Doppelstunde Algebra.
    Wir gehen fast immer gemeinsam zur Schule. Er kocht den Kaffee, und ich brate die Eier und röste das Brot. Papa trinkt seinen Kaffee schwarz und ohne Zucker. Ich trinke ihn mit viel Milch, und obwohl auch ich keinen Zucker nehme, rühre ich mit dem Löffel in der Tasse so als ob.
    Schon den ganzen Monat ist schlechtes Wetter. Es ist kalt und nass, und die Leute wickeln sich bis zur Nase in ihre Schals. Papa hat einen beigefarbenen Trenchcoat wie die Detektive in den Filmen.
    Ich trage eine schwarze Lederjacke über der Schuluniform. Die Tropfen rinnen übers Leder, und ich werde nicht nass. Zur Schule sind es fünf Querstraßen. Sobald wir aus dem Aufzug gestiegen sind, zündet Papa sich seine erste Zigarette an und raucht sie den Weg über vor sich hin.
    Die Zigarette reicht ihm immer genau bis vors Schultor, dort wirft er die Kippe auf den Boden und gibt mir mit großer Geste den Einsatz, damit ich sie austrete. Er geht zum Lehrerzimmer, das Klassenbuch holen, und wenn er zu uns in die Klasse kommt, fragt er uns, wo wir das letzte Mal waren.
    Das letzte Mal waren wir bei Platon und dem Höhlengleichnis. Nach Platon sind die Menschen wie Zombies, die auf eine Höhlenwand starren, doch was sie dort sehen, ist nicht die Wirklichkeit, sondern es sind die von einem Feuerschein an die Wand geworfenen Schatten. Die Wirklichkeit haben die Menschen nie zu Gesicht bekommen, darum nehmen sie die Schatten als diese wahr. Nur wenn sie aus der Höhle herauskämen und die Welt im Licht der Sonne sähen, würden sie erkennen, dass sie in einer Welt der Erscheinungen gelebt haben und dass das, was sie für echt hielten, nur ein blasser Widerschein der Wirklichkeit war.
    Bevor er noch mal auf Platon zurückkommt, geht Señor Santos die Klassenliste durch, und bei jedem, der fehlt, setzt er neben den Namen einen roten Punkt. Obwohl wir zusammen zur Schule gegangen sind, er also weiß, dass ich da bin, ruft er nach »Salas« jedes Mal »Santos« auf, und ich muss mich mit »hier« melden. Dass ich ausgerechnet ihn als Philosophielehrer bekommen habe, so Papa, entbindet mich von keiner meiner Pflichten, auch nicht von einer so überflüssigen wie, mich anwesend zu melden. Er sagt, wenn ich nicht lerne, nützt es mir auch nicht, dass ich sein Sohn bin, dann muss er mich durchfallen lassen.
    Ich mag Philosophie, auch wenn ich nicht gleich Lehrer werden will wie Papa, da muss man so früh aufstehen, schwarzen Tabak rauchen und verdient außerdem wenig Geld.
    Bevor mein Vater mit der Stunde anfängt, wischt er sich mögliche Aschekrümel vom Revers. Dann bringt er seinen Lieblingssatz an: »Warum gibt es das Sein und nicht das Nichts?« Gefolgt von: »Das ist die Eine-Million-Dollar-Frage. Und im Grunde die einzige und große Frage der Philosophie.«
    In letzter Zeit beschäftigt mich die Frage, dass, wenn es das Sein gibt, es auch einen Sinn geben muss, denn ohne einen Sinn könnte es das Sein genauso gut nicht geben.
    Patricia Bettini, mit der ich zusammen bin, sagt, der Sinn des Seins sei nichts weiter, als zu sein, und dass es so was wie eine Bestimmung nicht gebe. Und sie sagt, ich solle mir nicht so einen Kopf machen und spontaner sein. Sie ist mehr Hippie.
    An dem Dienstagabend, bevor sie meinen Vater mitgenommen haben, habe ich ihm Patricia Bettinis Gedanken vorgetragen, und er war aufgebracht. Er hat seine Suppe ein zweites Mal gesalzen und sie dann weggeschoben mit den Worten, sie sei ungenießbar.
    Ich habe den Fernseher angeschaltet, aber auf dem Bildschirm war wieder nur Pinochet zu sehen, der irgendeine Rentnerin küsste, und da habe ich lieber schnell wieder abgedreht.
    Und dann sagte er mir auch noch, ich solle bei Patricia Bettini auf der Hut sein, denn wenn sie der Ansicht sei, dass das Sein einfach sei und fertig, dann übersehe sie etwas, das einem intelligenten jungen Mädchen eigentlich nicht entgehen dürfe, nämlich dass der Mensch ein Bewusstsein hat, der Mensch ist und gleichzeitig denkt er das Sein, er kann also mit seinem Denken dem Sein einen Sinn und eine Zielrichtung geben. Will heißen, der Mensch kann Werte setzen und sie sich zum Maßstab nehmen. Das Gute ist das Gute. Die Gerechtigkeit die Gerechtigkeit; Gerechtigkeit im Rahmen des
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