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Die Versuchung

Die Versuchung

Titel: Die Versuchung
Autoren: Jemima Montgomery
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    Vor Jahren, ehe der Münchner Hof erbaut wurde, galt der Goldene Hirsch, der einem Franzosen namens Havard gehörte, als das beste Hotel in München. Hier stiegen alle gekrönten Häupter und Personen von Rang ab, und regelmäßig mussten englische Familien unter empörtem Protest ihre Gemächer aufgeben, um einem Kaiser, König oder Erzherzog Platz zu machen. Im August wurden derart hohe Gäste jedoch selten erwartet, und ein junger englischer Tourist konnte daher eine ganze Woche lang ungestört eines der Zimmer bewohnen. Der Gast konnte den Komfort des Hauses an diesem Nachmittag jedoch nicht recht genießen, er ging unruhig im Zimmer auf und ab, blickte lange angestrengt aus dem Fenster und las schließlich noch einmal den Brief, den er geschrieben hatte.
    „Liebe Schwester, ich habe seit meiner Abreise sorgfältig alles notiert, was ich gesehen und gehört habe. Aber ich fürchte, dass ich meine Pläne, meine Reiseberichte zu veröffentlichen, aufgeben muss, denn heutzutage kann man von London bis nach Timbuktu reisen, ohne wirklich etwas zu sehen, was nicht bereits in allen Reisebüchern zu lesen ist. Ich dachte, dass unser Bruder John von seinen Aufenthalten im Ausland nur deshalb nichts Spannendes zu erzählen hätte, weil er erbärmlich Französisch und kaum Deutsch spricht. Aber ich habe ihm Unrecht getan. Denn obwohl ich sechs Jahre lang Deutsch gelernt habe und leidlich gut Französisch kann, weiß bisher beim besten Willen nichts Besonderes von meiner Reise zu berichten. Ich bin vor drei Wochen aus England abgereist und mit Ausnahme der fantastischen Explosion eines Dampfkessels bei meiner Abfahrt aus Köln ist nichts Bemerkenswertes passiert. Ich muss mich bemühen, einige Einheimische kennen zu lernen, um endlich etwas über die Sitten und Gewohnheiten in Deutschland zu erfahren. Man hat mir gesagt, dass die vornehme Welt Münchens im Sommer auf dem Land lebe, und so muss es sein, denn es kann nichts Verlasseneres geben als die Straßen hier am Abend ...“
    Alexander Hamilton faltete den Brief sorgfältig, steckte ihn in ein Kuvert, verließ das Zimmer und schlenderte die Treppe hinab. Da er nichts Besseres vorhatte, würde er ihn selbst zur Post bringen. Als er zurückkehrte, sprang er leichtfüßig die Stufen hinauf, gefolgt von einem Bediensteten des Hotels, der die Lichter anzündete und sich bereit hielt, ihm beim Ausziehen seines engen Gehrockes behilflich zu sein. Hamiltons Blick fiel auf einen Briefumschlag, der mitten auf dem Tisch lag.
    „Wann ist der Brief gekommen?“
    „Heute früh, gnädiger Herr! Herr Havard hat mir den Auftrag gegeben, ihnen zu sagen, dass er versehentlich in ein falsches Zimmer gebracht wurde.“
    Hamilton riss hastig den Umschlag auf und las: „Lieber Mr. Hamilton! Ich habe gerade erst Ihren Namen in dem Verzeichnis der in München abgestiegenen Fremden gesehen und schreibe sogleich, um Ihnen mitzuteilen, dass wir gegenwärtig in Seeon sind, was nicht allzu weit entfernt ist. Unser Haus ist momentan nicht bewohnbar und wir haben das alte Kloster als unser Quartier gewählt. Seeon ist ein recht gut frequentiertes Bad; da die Hauptsaison fast vorüber ist, wird es sicher möglich sein, Ihnen ein Zimmer zu besorgen. Wir würden uns sehr freuen, Sie zu sehen und Ihnen die Schönheit unserer Gegend zu zeigen. Vielleicht können wir auch zusammen eine Tour nach Tirol unternehmen. Ich nehme an, dass Sie in Begleitung von Mrs. Hamilton reisen, die selbstverständlich ebenfalls herzlich willkommen ist. Mit herzlichen Grüßen ...“  Die Unterschrift war leider unleserlich.
    „Wie weit ist es von München nach Seeon?“, fragte Hamilton den Angestellten.
    „Es tut mir leid, Ihnen keine Auskunft geben zu können, gnädiger Herr. Seit ich hier bin, ist noch kein Reisender nach Seeon gegangen.“
    „Gibt es keine Eilpost-Kutsche dorthin? Es muss eine Poststation oder etwas Ähnliches sein.“
    „Das weiß ich wirklich nicht, gnädiger Herr.“
    „Schauen Sie, ob Sie den Poststempel entziffern können“, sagte Hamilton, indem er ihm ungeduldig den Brief reichte.
    „Ich glaube, es heißt Altenmarkt, aber ich bin nicht sicher.“
    „Seien Sie so gut und holen Sie mir eine Landkarte. Und sagen Sie Herrn Havard, dass ich ihn kurz sprechen möchte.“
    Als der Bedienstete das Zimmer verlassen hatte, wendete Hamilton den Brief hin und her, betrachtete das Siegel, das ein kleines Wappen mit den Initialen A und Z erkennen ließ, las ihn fünf- oder sechsmal und ging
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