Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Versuchung

Die Versuchung

Titel: Die Versuchung
Autoren: Jemima Montgomery
Vom Netzwerk:
in Gedanken seinen Bekanntenkreis durch. Nein, er kannte wirklich niemanden, der A. Z. hieß!
    „Aber der Brief ist an mich adressiert“, murmelte er. „Jedenfalls an einen A. Hamilton, Hotel Goldener Hirsch. Offensichtlich glaubt der Absender, dass ich mit meiner Tante reise. Warum nicht? Vielleicht ist es ein Freund meines Vaters, und in diesem Falle wäre es gewissermaßen meine Pflicht, nach Seeon zu reisen.“
    Noch hatte er keinen festen Entschluss gefasst, als auch schon Herr Havard in sein Zimmer trat.
    „Oh Herr Havard! Können Sie mir sagen, wie weit es von hier nach Seeon ist?“
    „Eine Tagesreise, wenn Sie mit einem Lohnkutscher reisen, mit der Extrapost nur einen halben Tag.“
    „Können Sie die Reise mit einem Lohnkutscher empfehlen?“
    „Durchaus, wenn Sie nicht viel Gepäck haben. Wenn Sie wünschen, kann ich Ihnen einen Wagen mit passablen Pferden besorgen.“
    „Ich danke Ihnen. Morgen früh um sechs Uhr möchte ich abreisen, wenn das möglich wäre. Ach, da fällt mir noch etwas ein. Vielleicht können Sie mir sagen, ob hier vor kurzem Reisende abgestiegen sind, die ebenfalls Hamilton heißen, so wie ich?“
    „Hamilton – Hamilton!“, wiederholte Havard nachdenklich. „Hier steigen viele Hamiltons ab. Ich werde in unserem Gästebuch nachsehen.“
    Die Nachforschungen des freundlichen Hotelbesitzers ergaben, dass vor kurzem ein Alexander Hambleton hier logiert hatte, die letzten Hamiltons waren aber bereits vor zehn Tagen abgereist. Der Brief war also offenbar wirklich für ihn bestimmt.
     
    Der Morgen war sonnig und wolkenlos, und Hamilton freute sich darauf, endlich die ausgetretenen Pfade des gewöhnlichen Reisenden zu verlassen und etwas Unerwartetes zu sehen. Selbst die etwas ältliche Kutsche mit schläfrig aussehenden Pferden beeinträchtigte seine gute Laune nicht, und der Lohnkutscher in seinem dunkelblauen Leinenhemd, mit einer kurzen Pfeife unter einem buschigen Schnurrbart, kam ihm geradezu malerisch vor. Er schien sehr auf seine Pferde zu achten, denn er hatte kaum die Münchner Vorstadt verlassen, als er vom Bock herabstieg, um eine kleine Anhöhe zu Fuß zu gehen, ohne auf Hamiltons Proteste zu achten. Immerhin stieg er auf der anderen Seite wieder auf.
    Wenn es nicht so schwül gewesen wäre, hätte Hamilton darauf bestanden, dass das Verdeck zurückgeschlagen und die abscheulich klappernden Fenster ihm gegenüber entfernt würden. So aber fügte er sich in seine Lage und schlief durch das gleichmäßige Rütteln und Schütteln der Kutsche schließlich ein. Er erwachte erst, als der Wagen vor einem Wirtshaus anhielt. Der Kutscher ließ ihn wissen, dass man hier zwei Stunden rasten werde, um auszuruhen und zu Mittag zu essen. Es war zwölf Uhr. Das Wirtshaus versprach nicht viel, aber vor der Tür entdeckte er einen Wagen, der seinem glich wie ein Ei dem anderen, nur mit dem Unterschied, dass er bis oben hin beladen war mit Hutschachteln und weiteren Gepäckstücken, die weibliche Reisende verrieten. Hamilton gab sich einen Ruck und sprang aus dem Wagen. Unwillkürlich fuhr er sich durch das volle Haar, ehe er das Wirtshaus betrat. Er durchquerte den großen Gastraum voller Bauern und gelangte in ein angrenzendes, kleineres Zimmer mit wenigen Tischen. An einem davon saßen drei Frauen und ebenso viele kleine Knaben. Seine höfliche Verbeugung wurde erwidert, doch nahm man sonst keine Notiz von ihm; genau genommen ignorierte man ihn. Das hinderte ihn jedoch nicht daran, die Damen einer kleinen Musterung zu unterziehen.
    Diejenige, welche vermutlich die Mutter der Kinder war, eine lange schmale Person, hatte ein Tuch um ihren Kopf geschlungen und schien an Zahnschmerzen zu leiden – anders konnte Hamilton sich diesen Aufzug nicht erklären. Die beiden anderen Frauen waren sehr jung und ausgesprochene Schönheiten: blaue Augen, rosige Wangen, volle Lippen und geflochtenes brünettes Haar. Es musste sich um Schwestern handeln, denn sie sahen sich auffallend ähnlich.
    Zu seinem Erstaunen sah Hamilton, wie die jungen Damen das von ihnen bestellte Brathuhn ungeniert mit den Fingern zerlegten und das Fleisch der Hühnerbeine mit den Zähnen abnagten. Sofort war er davon überzeugt, dass sie aus sehr einfachen Verhältnissen stammten, da sie offensichtlich nicht mit Besteck umzugehen wussten. Nun kam seine eigene Bestellung, und er beschloss, die Reisegruppe am Nachbartisch nicht weiter zu beachten.
    Die Dame mit dem verbundenen Kopf klopfte ans Fenster und fragte ihren
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher