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verwundet (German Edition)

verwundet (German Edition)

Titel: verwundet (German Edition)
Autoren: Constanze Kühn
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Prolog
    Mai 1998
    M it dem Erwachen kehrten die Bilder zurück. Die halbe Nacht hatte sie wach gelegen und war erst in den frühen Morgenstunden in einen unruhigen Schlaf gefallen, der von fieberhaften Träumen durchwirkt gewesen war. Benommen öffnete sie die Augen, sah auf die Uhr und stöhnte leise. Halb acht. Noch sieben Stunden bis zu ihrer Verabredung mit Lydia. Als sie gestern ihre Stimme am Telefon gehört hatte, hatte sie geglaubt, zu träumen. Sie sei in Köln, hätte Lisas Ausstellung besucht und wolle sie sehen. Ihre Stimme hatte die Jahre schmelzen lassen, als seien sie nur eine Erinnerung aus dem Leben eines anderen Menschen. Lisa hatte so lange geschwiegen, dass Lydia gefragt hatte, ob sie noch da sei. Sie hatte ihr dieses Wiedersehen nicht länger verweigern können und so würden sie sich heute nach fast zehn Jahren Schweigen wieder gegenüber sitzen. Sie schloss die Augen. Erinnerungen durchfluteten sie. Allzu früh hatte sie in menschliche Abgründe geblickt. Bereits mit Anfang zwanzig war ihr nicht mehr viel fremd gewesen. Die Gefahren, die Bedrohungen der Kindheit und die der späteren Entwicklungsjahre, der Jugend, des frühen Erwachsenenalters, unterschieden sich völlig. Es war, als hätte sie in zwei Welten gelebt, die nichts miteinander zu tun hatten. Überhaupt schien Dualität ihr Lebensthema zu sein. Sie hatte oft das Gefühl, ein ganzes Universum in sich zu tragen, alle Gedanken, die jemals in der Welt gedacht, alle Gefühle, die jemals empfunden worden waren, jeder Schmerz, jedes Glück, ihr eigener Schmerz, ihr eigenes Glück. Sie trug die Welt aller Bücher in sich, die sie gelesen, die Töne klangen in ihr, die sie gehört hatte, und sie fühlte sich unendlich reich. Alles blühte und wucherte üppig in ihr. Dann aber aus heiterem Himmel kippte diese Welt in einen Abgrund, und sie fühlte sich nur noch müde, alt, leer und verbraucht. Wohin war dieser Reichtum verschwunden? Es war, als ob sie aus zwei Hälften bestand. Die eine bedeutete Licht und Reichtum, die andere Dunkelheit und Armut. Wenn die lichte, reiche Welt oben war, konnte sie manchmal die drohende Dunkelheit unterhalb des Lichts sehen und fühlen. War aber die Dunkelheit und Armut, die Leere in ihr, konnte sie vom Licht nichts mehr sehen und erahnen und hatte lediglich Erinnerungen daran, dass es diese Welt einmal in ihr gegeben hatte. Die Dunkelheit verschluckte das Licht völlig und hinterließ nur eine Sehnsucht nach etwas, das nicht mehr zu existieren schien. Lydia hatte damals die lichte Welt bedeutet, das Milieu, in dem Lisa sich selbst mit achtzehn bewegt hatte, die dunkle Welt. Anderthalb Jahre der Selbstzerstörung, und doch gehörten alle Welten zusammen. Der Keim zum Hang, sich selbst vernichten zu wollen, war in frühester Kindheit gelegt worden. Diese Veranlagung war der rote Faden in ihrem Leben gewesen, auf den sich wie Perlen ihre Erfahrungen und Erlebnisse gereiht hatten.
    Als sie später vor Lydia stand, fürchtete sie, dass Lydia das Klopfen ihres Herzens hören könnte. Sie umarmte sie flüchtig, bevor sie sich setzte. Das Café, das sie ausgesucht hatte, bot von der Terrasse einen herrlichen Ausblick auf den Rhein, doch ihre Aufmerksamkeit galt nur Lydia. Ihr Lächeln hatte sich nicht verändert, es war warm und herzlich. Die neuneinhalb Jahre, die zwischen ihrer letzten Begegnung und der heutigen lagen, hatten ihre Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen. Sie hatte immer noch wenig Falten, aber es waren doch einige hinzugekommen. Lisa rechnete ihr Alter nach und kam auf siebenundfünfzig. Ihre Augen hatten wie damals den aufmerksamen Blick, der jetzt wahrscheinlich die Veränderungen an Lisa wahrnahm. Das Ziehen in ihrer Brust war wieder da, ein leiser, feiner, hintergründiger Schmerz. Lydia konnte ihn also noch immer hervorrufen. Etwas befangen saßen sie sich gegenüber, zwei Frauen, die Mutter und Tochter hätten sein können, wären sie nicht äußerlich so sehr verschieden gewesen. Lydia, blond, trug noch immer einen Pagenkopf. Hier und da hatten sich graue Strähnen eingeschlichen, die Lisa nur sehen konnte, weil die Sonne sie zum Schimmern brachte und ihr der Anblick nicht vertraut war. Lisas Haare hingegen wiesen das kräftige Rot auf, das sie früher nicht gemocht hatte. Sie bändigte ihre widerspenstigen Locken stets mit einem schwarzen Tuch, das ihr die Haare aus der Stirn hielt. Ihre Augen hatten die Farbe dunkler Schokolade, während die von Lydia an sommerliches Grün denken ließen. Wie
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