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Die Versuchung

Die Versuchung

Titel: Die Versuchung
Autoren: Jemima Montgomery
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machen. Bis er die Lampe im Gang entzündet hatte, vergingen einige Minuten, und als er weiterging, sah er auf einmal Isabelle und ihre Stiefmutter in einiger Entfernung vor sich. Die Letztere redete laut auf jene ein und schien eine begonnene Strafpredigt fortzusetzen:
    „Du kannst dich darauf verlassen, dass dein Vater einen ausführlichen Bericht von dieser Geschichte erhält! Was für eine peinliche Szene! Graf Zedwitz hat seinen Diener zu mir geschickt, um zu fragen, ob er helfen könne, und Eintauchen in kaltes Wasser als probates Gegenmittel bei überreizten Nerven empfohlen. Vielleicht würde ein kaltes Bad Sophie in der Tat am schnellsten wieder zu Vernunft bringen. Wie soll ich mich erholen, wenn ich für dich und deine Schwester die Gouvernante spielen muss? Vergiss nicht, dass ich dir streng verbiete, nach Sonnenuntergang noch einmal in diesem Gang herumzuwandern, hörst du?“
    „Ja, Madame!“
    „Und dass Sophie sich derart vor Gewittern fürchtet, ist nun wirklich albern. Ich möchte wissen, ob alle jungen Damen im Internat laut schreien, sobald es anfängt zu donnern und zu blitzen.“
    „Der Donner war sehr laut“, begann Isabelle, „und außerdem hat sie gesehen ...“
    „Wie auch immer“, unterbrach ihre Mutter sie zu Hamiltons Erleichterung, „es mag Blitz und Donner oder was auch immer gewesen sein, aber das ist keine Entschuldigung für einen derartigen Aufruhr, und sollte sich etwas Ähnliches wiederholen, so wird das ernste Konsequenzen haben. Ich bin hier, um mich zu erholen, und jede Nervenreizung ist mir vom Arzt ausdrücklich untersagt worden.“    
    Hamilton folgte ihnen unauffällig in einiger Entfernung bis zum Speisezimmer. Es war spät geworden, die meisten Gäste hatten längst gegessen. Der Baron, dessen Anreise er vom Fenster aus miterlebt hatte, zündete sich gerade eine Zigarre an und verließ den Raum. Ein anderer Herr, neben dem ein Bierkrug stand, war, wie er bald herausfand, Major Stutzenbacher. Er saß neben einem hageren jungen Mann, bei dem es sich offensichtlich um den Maler handelte.
    Isabelle und ihre Stiefmutter saßen ihm beinahe gegenüber. Die Erstere heftete, nachdem sie ihm einen Blick zugeworfen hatte, der auch sehr gut eine Ohrfeige hätte begleiten können, ihre Augen unverwandt auf das Tischtuch, Letztere nickte ihm freundlich zu und begann ein unverbindliches Gespräch über das Klima, das Wetter und ihre Abneigung gegen Gewitter im Allgemeinen. Als diese Themen erschöpfend behandelt waren, kam am Nebentisch die Rede auf das Münchner Bier; der Bock sei dieses Jahr besonders gut gewesen, hieß es.
    „Bock!“, rief Major Stutzenbacher enthusiastisch. „Bock ist besser wie Champagner, besser wie ...“ Offenbar fehlten ihm die Worte, um seiner Begeisterung für dieses Getränk den gebührenden Ausdruck zu verleihen, denn er blickte nur in stummer Verzückung hinauf zur Decke. Dann ließ er seinen Blick weiter schweifen und schließlich wohlgefällig auf Isabelle ruhen.
    „Wollen Sie vielleicht die Zeitung haben, Madame?“, fragte er höflich, indem er ihrer Stiefmutter die aktuelle Ausgabe hinhielt.
    „Ich danke Ihnen, aber ich lese nie Zeitung, obgleich ich mit einigen Bekannten den Eilboten halte, aber nur weil er zu uns immer zuletzt kommt; mit dem Papier kann man ganz wunderbar die Spiegel und Fenster putzen, es schmiert nicht.“
    „Es stehen mitunter aber auch recht hübsche Geschichten im Eilboten . Junge Damen lesen solche Dinge ganz gern“, bemerkte er mit einem Blick auf Isabelle.
    „Meine Töchter dürfen nur Französisch lesen, und ich habe für sie in einer Leihbibliothek abonniert. Sie beherrschen die Sprache mittlerweile wirklich wie ihre zweite Muttersprache“, sagte sie nicht ohne Stolz.
    „Ich würde nichts dagegen haben, von einer solchen Lehrerin Französisch zu lernen“, sagte der Major galant.
    „Ich glaube nicht, dass Isabelle zur Lehrerin geeignet wäre“, erwiderte Madame Rosenberg streng. „Aber ihre Schwester Sophie wird mit meinen Knaben demnächst Französisch sprechen, damit sie die Sprache früh lernen.“
    „Sie haben zwei Töchter?“, rief der Major.
    „Stieftöchter“, stellte sie richtig.
    „Natürlich, anders habe ich es auch nicht gemeint“, erklärte er mit einer kleinen Verbeugung, wohl um zu zeigen, dass das als Kompliment gemeint war. „Die jungen Damen werden Ihnen im Haushalt sicher von großem Nutzen sein.“
    „Das ist es eben, was bei ihrer Erziehung vernachlässigt worden ist;
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