Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eine Mittelgewichts-Ehe

Eine Mittelgewichts-Ehe

Titel: Eine Mittelgewichts-Ehe
Autoren: John Irving
Vom Netzwerk:
Richtungen‹ genannt wurde. Das Museum of Modern Art besaß die meisten bedeutenden Vertreter jeder bedeutenden und unbedeutenden Richtung des zwanzigsten Jahrhunderts, aber es fehlten ihm noch einige unbedeutende Maler, und Ediths Mutter suchte verfügbare Gemälde unbedeutender Künstler mehr oder weniger bedeutender Schulen. Edith hatte von keinem der Maler, von denen ihre Mutter so gefesselt war, je gehört. »Aber ich empfand meine eigene Schriftstellerei als so unbedeutend«, erzählte sie mir, »daß ich so etwas wie rührseliges Mitgefühl für alle diese Unbekannten hatte.«
    Wir müssen ähnliche Eltern gehabt haben. Meine Mutter begann gleichzeitig mit der Veröffentlichung meines ersten historischen Romans ein brennendes Interesse für unbedeutende Romanliteratur zu entwickeln. Die meisten historischen Romane sind natürlich ziemlich schlecht, aber meine Mutter fühlte sich gezwungen, sich in meinem Gebiet »auf dem laufenden zu halten«. Ich hatte noch nie irgendwelche historische Romane gelesen, aber sie nahm die Gewohnheit an, mir ihre raren Funde zu schicken; das dauert bis heute an.
    Als ich, kurz nachdem mein erstes Buch erschienen war, nach Hause ging, um meine Eltern zu besuchen, empfing mich meine Mutter auf eine Weise an der Tür, die zu einem Ritual für alle meine Veröffentlichungen werden sollte. Sie sei gerade mit meinem Buch fertig geworden, sagte sie mir und drückte mir dabei die Hände; sie sei überrascht, wie sehr es sie bewegt habe, und (während wir auf Zehenspitzen durch die Halle gingen) mein Vater werde eben gerade damit fertig. Sie glaube, ihm habe gefallen, was er »bis jetzt« gelesen habe. Und wir stahlen uns durch das alte Haus und näherten uns meinem Vater in seiner Höhle, wie man sich an ein unberechenbares Tier heranschleichen würde, von dem es hieß, es »werde gerade« mit seinem rohen Fleisch »fertig«. Es wäre nicht tunlich aufzutauchen, solange es noch fraß.
    Wir umringten den eingesunkenen Lesesessel meines Vaters. Hinter ihm stehend, erkannte ich, daß er schlief. Er hatte die Eigenheit, seinen Scotch zwischen den Oberschenkeln einzuklemmen, wenn er einschlief; irgendwie entspannte er nie die Muskeln, und der Drink wurde nie verschüttet. Und überall um ihn herum waren Bücher aufgeschlagen, Bücher, mit denen er »gerade fertig wurde«. Gewöhnlich lagen mindestens zwei in seinem Schoß. Eines davon war meins, aber es war unmöglich zu erkennen, welches ihn in Schlaf versetzt hatte. Ich sah nie ein fertig gelesenes Buch in seinem Haus. Er sagte mir einmal, die Schlüsse aller Bücher stimmten ihn überwältigend traurig.
    Er war Historiker; er hatte sechsunddreißig Jahre lang in Harvard gelehrt. Als ich dort studierte, machte ich den Fehler, einen seiner Kurse zu belegen. Es war einer dieser Kurse über intellektuelle Probleme, auf die Harvard sehr stolz war. Das Problem in diesem Kurs bestand darin, zu entscheiden, ob Lenin für die russische Revolution notwendig war oder nicht. Hätte sie trotzdem stattgefunden? Hätte sie stattgefunden, als sie stattfand? War Lenin wirklich wichtig? Wie bei den meisten Kursen über intellektuelle Probleme wurde eigentlich nicht von einem erwartet, daß man zu einer Antwort kam. Ungefähr fünfzehn von uns spekulierten über die Frage. Auch mein Vater spekulierte in seinen Vorlesungen. In der letzten Vorlesung (ich sprach ihn mit »Sir« an) fragte ich ihn, ob er nicht kurz seine eigene Meinung darlegen wolle, da er ja wohl eine habe: War Lenin notwendig?
    »Natürlich nicht«, sagte er, aber es ärgerte ihn, daß ich gefragt hatte; er gab mir ein ›Befriedigend‹. Es war das einzige ›Befriedigend‹, daß ich je irgendwo bekommen habe. Und als ich ihn fragte, was er von meiner Schriftstellerei halte - ich nähme an, daß er meine, der historische Roman sei sowohl für die Geschichte als auch für die Literatur schlecht, aber in meinem besonderen Fall ... »Genau«, sagte er.
    Mein erster historischer Roman behandelte ein Jahr der großen Pest, wie sie Frankreich dezimierte. Ich konzentrierte mich auf ein kleines Dorf, und das Buch war eine erschreckend genaue, geradezu klinische Schilderung davon, wie alle sechsundsiebzig Einwohner des Dorfes schließlich am Schwarzen Tod starben.
    Es gab eine Menge Galgenbilder. »Mir gefällt es bis jetzt«, sagte mein Vater. »Ich bin noch nicht damit fertig, aber ich finde, es war klug von dir, ein kleines Dorf auszuwählen.«
    Der Fan war meine Mutter. Sie schickte mir einen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher