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Eine Mittelgewichts-Ehe

Eine Mittelgewichts-Ehe

Titel: Eine Mittelgewichts-Ehe
Autoren: John Irving
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schlechten historischen Roman nach dem anderen, mit einem Rattenschwanz von Briefen, in denen es hieß: »Ich finde, Deine Bücher sind soviel besser!« Und nach jeder meiner Veröffentlichungen wiederholte sich das Ritual. Da stand ich vor der Tür in der Brown Street, Cambridge, dem einzigen Haus, in dem ich je aufwuchs oder zu dem ich je zurückkehrte. Anfangs kam ich allein, dann mit Utsch und dann mit unseren Kindern, und meine Mutter bat uns im Flüsterton herein: »Ich fand es ja so herrlich, und deinem Vater gefällt es sehr. Besser als das letzte, sagt er. Ja, ich glaube, er wird gerade damit fertig ...« Und wir stahlen uns die Halle hinunter, näherten uns der Höhle, sahen meinen Vater mit fest zwischen den Schenkeln eingeklemmtem Scotch schlafen. Mein Buch, und alle anderen lagen gleichsam angeklagt um ihn herum, möglicherweise schuld an seiner Betäubung.
    Ich sah ihn auch nie mit einem Scotch fertig werden. Es war meine Mutter, die, wie Ediths Mutter, ihre Arbeit - wie unbedeutend auch immer - ernst nahm.
    Ich glaube, daß Mütter in der Regel ernsthafter sind als Väter. Einmal setzte ich mich zu Tisch, tätschelte Utsch den Schenkel und füllte das halbleere Milchglas meines Sohnes mit Wein auf. »Hast du deine Kinder heute auch nur angesehen?« fragte mich Utsch. »Mach die Augen zu, und sag mir, was sie anhaben.« Aber bei Severin Winter bricht meine Theorie zusammen. In ihrer Familie war er die Mutter.
    Nicht mehr als eine Woche nachdem Utsch mich dabei ertappt hatte, wie ich Milch mit Wein mischte, waren wir in Winters belebter Küche; jedermanns Kinder wuselten herum, und Severin machte für uns alle seine Bouillabaisse. Edith und ich unterhielten uns am Küchentisch; Utsch schnürte jemandem den Schuh; und die jüngste Tochter der Winters starrte unverwandt auf den Ohrring ihrer Mutter. Ich hatte das Kind auch nichts sagen hören, aber plötzlich drehte sich Severin am Herd um und blaffte: »Edith!« Sie fuhr zusammen. »Edith«, sagte er, »deine Tochter, die dich den ganzen Tag ansieht, als wärst du ein Spiegel, hat dir schon viermal dieselbe Frage gestellt. Warum antwortest du ihr nicht?« Edith sah ihre Tochter an, überrascht, sie da sitzen zu sehen. Aber Utsch war im Bilde; auch sie hörte alles, was die Kinder je sagten.
    Utsch sagte: »Nein, Dorabella, es tut nicht sehr weh.« Edith starrte ihre Tochter immer noch an, als habe sie gerade erfahren, daß dieses reizende Kind von ihrem Fleisch und Blut war.
    »Tut es weh, sich die Ohren durchstechen zu lassen, Mami?« dröhnte Severin vom Herd.
    Und Edith sagte: »Ja, ein bißchen, Fiordiligi.« Richtiger Name, falsche Tochter; wir wußten es alle; wir warteten darauf, daß Edith ihr Versehen bemerkte, aber sie tat es nicht.
    »Das ist Dorabella, Edith«, sagte Severin; Dorabella lachte, und Edith starrte sie an. Und Severin, wie um es Utsch und mir zu erklären, sagte: »Es ist verständlich. Vor ungefähr vier Jahren hat Fiordiligi Edith die gleiche Frage gestellt.«
    Doch plötzlich war es ganz still in dieser lebensvollen Küche; nur die Bouillabaisse sprach. Vielleicht um die Spannung zu durchbrechen, die wir stets spürten, wenn wir die eigenartige Verbundenheit erkannten, die wir füreinander empfanden, sagte Severin (aber wie sonderbar, so etwas zu sagen!): »Tut es weh, sich die Zunge an ein Brotschneidebrett nageln zu lassen?«
    Wir lachten alle. Warum? Ich dachte über uns vier nach, aber woran ich mich erinnerte, war die Antwort meines Vaters an einen Interviewer von der Times, der ihn gebeten hatte, ein paar Worte zu irgendeiner neuen Geste der amerikanischen Außenpolitik zu sagen, »unter Berücksichtigung der Subtilitäten, die uns Laien vielleicht entgangen sind«. »Sie ist ungefähr so subtil wie die russische Revolution«, hatte mein Vater gesagt. Niemand hatte genau gewußt, was er meinte.
    Das schaurige Weitwinkelobjektiv meines Vaters. In bezug auf Lenin war ich ganz und gar nicht seiner Meinung. Lenin war notwendig. Die Menschen sind notwendig. (»Wie schön für dich«, sagte Severin einmal zu mir. »Edith ist auch eine Romantikerin.«) Und die schrecklichen Bücher meiner Mutter, denke ich manchmal, kamen der Wahrheit näher, als mein Vater je ihrer Erkenntnis kam. Edith und ich wurden, unserer selbst unsicher, als Snobs erzogen - verliebt in die Unschuld unserer Mütter.
    In Paris ging Edith aus und las alles, was sie finden konnte über all die unbedeutenden Maler, die ihre Mutter in ihren Briefen erwähnte.
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