Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eine Mittelgewichts-Ehe

Eine Mittelgewichts-Ehe

Titel: Eine Mittelgewichts-Ehe
Autoren: John Irving
Vom Netzwerk:
Über manche von ihnen gab es nicht viel herauszufinden, aber sie versuchte es. Sie kam nicht viel zum Schreiben, und gerade als sie genügend Forschungsliteratur bewältigt hatte, um kenntnisreich auf die Interessen ihrer Mutter eingehen zu können, machte ihr der Vater des Haushaltes, dessen verwöhnter Gast sie war, einen Antrag. Er war stets sehr höflich und väterlich zu ihr, und sie hatte nie etwas geahnt. Eines Morgens schlug er sein weichgekochtes Ei zu hart auf; es flog aus dem Eierbecher und landete auf dem Perserteppich im Frühstückszimmer. Seine Frau lief in die Küche, um einen Schwamm zu holen. Edith bückte sich neben seinem Stuhl und tupfte ihre Serviette in den dottrigen Mansch auf dem Teppich. Er steckte seine Hand in ihr Haar und bog ihr überraschtes Gesicht zu sich auf: »Ich liebe dich, Edith«, krächzte er. Dann brach er in Tränen aus und verließ den Tisch.
    Seine Frau kam mit dem Schwamm zurück. »Ach, ist er weggerannt?« fragte sie Edith. »Er regt sich so auf, wenn er etwas verdreckt.«
    Edith ging auf ihr Zimmer und packte. Sie überlegte, ob sie ihrer Mutter schreiben und versuchen sollte, es ihr zu erklären. Sie war immer noch am Überlegen, was sie tun sollte, als das Mädchen die Post auf ihr Zimmer brachte. Dabei war ein neuer Brief ihrer Mutter über unbedeutende Maler. Ob Edith sich für eine Geschäftsreise nach Wien eben rasch von ihrer Arbeit in Paris losreißen könne. Der Vorgesetzte ihrer Mutter war daran interessiert, eine der Sammlungen ›Moderne Richtungen‹ abzurunden. Natürlich hatten sie etwas aus der Wiener Secession; sie hatten Gustav Klimt, der (sagte Ediths Mutter) eigentlich nicht zum späten Wiener Jugendstil zähle, da er in Wirklichkeit ein Vorläufer der Expressionisten sei. An Wiener Expressionisten hatten sie Egon Schiele und Kokoschka und sogar einen Richard Gerstl (einen wer? dachte Edith). »Wir haben einen fürchterlichen Fritz Wotruba«, schrieb Ediths Mutter, »aber was wir brauchen, ist jemand aus den Dreißigern, dessen Arbeit beiläufig und epigonal und vergänglich genug ist, um das Ganze zu verkörpern.«
    Der Maler, dem diese zweifelhafte Auszeichnung zufallen sollte, war an der Akademie Schüler von Herbert Boeckl gewesen. Er schien etwa um die Zeit »auf dem Höhepunkt seines Schaffens« gewesen zu sein, als die Nazis 1938 nach Österreich einmarschierten. Er war achtundzwanzig, als er verschwand. »Alle seine Bilder sind immer noch in Wien«, schrieb Ediths Mutter. »Vier hängen als Leihgabe im Belvedere, aber die meisten sind in Privathäusern. Sie gehören alle seinem einzigen Sohn, der anscheinend so viele davon verkaufen will, wie er kann. Wir brauchen bloß eins - allerhöchstens zwei. Du wirst Dias machen lassen müssen, und Du darfst Dich in Sachen Preis noch nicht festlegen.«
    »Reise heute nach Wien ab«, telegrafierte Edith ihrer Mutter. »Froh, mal wegzukommen. Perfektes Timing.«
    Sie flog von Orly nach Schwechat. Sie war drei Jahre zuvor im Dezember in Wien gewesen; sie hatte es gehaßt. Es war die mitteleuropäischste Stadt, die sie je gesehen hatte, und der kalte Schneematsch auf den Straßen schien mit zur gedrungenen, barocken Schwere der Stadt zu gehören. Die Gebäude wie die Menschen schienen ihr eine ungesunde Farbe und schlechtsitzende kunstvolle Kleider zu haben. Es war nicht so freundlich wie ein Dorf, aber es hatte nichts von der Eleganz, die sie mit einer Großstadt verband. Sie hatte das Gefühl, der Krieg sei gerade erst vorbei. In der ganzen Stadt sah sie fortwährend Schilder, die auf die wenigen Kilometer bis Budapest hinwiesen; ihr war nicht klar gewesen, daß sie fast in Ungarn war. Sie verbrachte hier nur drei Tage und sah nur eine Oper, den ›Rosenkavalier‹; sie langweilte sie, obwohl sie fand, daß sie das eigentlich nicht hätte sollen, und in der Pause machte ein Mann einen plumpen Annäherungsversuch.
    Aber als ihr Flugzeug aus Paris nun in Wien landete, war es eine andere Jahreszeit: Frühjahrswetter, feucht riechend von einem sonnigen Wind und einem grellblauen Bellini-Himmel. Die Gebäude, die damals alle so grau gewirkt hatten, leuchteten nun in so reichen und feinen Schattierungen; die dicken Putten und die Skulpturen überall wirkten wie ein von den Gebäuden herunterschwebendes, steinernes Willkommensfest. Die Leute gingen spazieren; die Bevölkerung schien sich verdoppelt zu haben. Etwas in der Atmosphäre war verändert, spürbar hauptsächlich am Anblick von Kinderwagen; die Wiener
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher