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Der Herr der Unterstadt: Thriller (German Edition)

Der Herr der Unterstadt: Thriller (German Edition)

Titel: Der Herr der Unterstadt: Thriller (German Edition)
Autoren: Daniel Polansky
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    Schon in den ersten Tagen des Großen Krieges – auf den Schlachtfeldern von Apres und Ives – habe ich mir die Fähigkeit angeeignet, im Nu wach zu werden. Wer zu fest schlief, musste nämlich gewärtig sein, Bekanntschaft mit der Grabenklinge eines Dren-Kommandos zu schließen. Diese Fähigkeit ist ein Überbleibsel aus meiner Vergangenheit, auf das ich alles in allem gern verzichten würde. Es gibt nur wenige Situationen, in denen es erforderlich ist, voll und ganz da zu sein, und im Allgemeinen wird die Welt erträglicher, wenn man sie nur undeutlich wahrnimmt.
    Ein gutes Beispiel: mein Zimmer – das man am besten in Augenschein nahm, wenn man noch halb schlief oder vom Alkohol benebelt war. Durch mein verdrecktes Fenster drang das Licht eines Spätherbsttages und ließ das Interieur, das ohnehin nicht weit von Verkommenheit entfernt war, noch weniger anziehend wirken als sonst. Selbst nach meinen Maßstäben – die ziemlich niedrig sind – war der Raum die reinste Bruchbude. Die Einrichtung bestand lediglich aus einem Bett, einer abgenutzten Kommode und ein oder zwei zerschrammten Tischen. Fußboden und Wände waren mit einer Schmutzschicht überzogen. Ich urinierte in den Nachttopf und entleerte ihn in die Gasse unter meinem Fenster.
    In der Unterstadt tobte bereits das Leben. Die Straßen hallten vom Geschrei der Fischweiber wider, die Lastträgern aus der nördlich gelegenen Altstadt den Tagesfang anpriesen. Auf dem Markt ein paar Häuserblocks weiter östlich verhökerten Kaufleute falsch abgewogene Waren an Zwischenhändler, die mit beschnittenen Kupfermünzen zahlten, während unten in der Light Street Straßenkinder luchsäugig nach einem unvorsichtigen Händler oder einem Blaublüter Ausschau hielten, der sich zu weit in die Unterstadt vorgewagt hatte. In den Winkeln und Gassen drückten sich die Stricher herum, die ebenfalls ihre Ware anpriesen, obwohl sie gedämpfter sprachen und mehr verlangten als die Fischweiber. Abgehärmte Nutten, die die Frühschicht durchzogen, versuchten, mit halbherzigen Gesten Passanten anzulocken – in der Hoffnung, ihre verblühten Reize versilbern zu können, damit es für eine weitere Tagesration Alkohol oder Drogen reichte. Die gefährlichen Männer des Viertels schliefen größtenteils noch, wie immer mit der Klinge neben dem Bett. Die wirklich gefährlichen Männer hingegen waren schon seit Stunden auf und eifrig mit ihren Federkielen und Geschäftsbüchern zugange.
    Ich hob einen Handspiegel vom Fußboden auf und hielt ihn auf Armeslänge vor mein Gesicht. Eine Schönheit war ich noch nie, da half kein Pudern und kein Schminken. Triefende Knollennase, Glupschaugen, der Mund wie ein Schlitz, den man mit dem Messer schief ins Fleisch geschnitten hat. Zur Steigerung meiner natürlichen Reize tragen zahlreiche Narben bei, die einen Masochisten vor Neid erblassen lassen würden. Über meine Wange zieht sich ein verfärbter Streifen, das Andenken an einen Geschosssplitter, der mir beinahe den Garaus gemacht hätte, während mein zerfetztes linkes Ohr von einer Straßenschlägerei Zeugnis ablegt, bei der ich den Kürzeren gezogen habe.
    Von der zerkratzten Tischplatte zwinkerte mir ein Fläschchen mit Koboldatem einen Morgengruß zu. Ich entkorkte es und atmete den daraus aufsteigenden Dunst ein. Ein süßlicher Geruch stieg mir in die Nase, gleich darauf folgte das vertraute Summen in meinen Ohren. Ich schüttelte die Flasche – schon halb leer. Das Zeug hatte sich schnell verbraucht. Ich zog mir Hemd und Stiefel an, holte meinen Ranzen unter dem Bett hervor und ging nach unten, um den späten Vormittag zu begrüßen.
    In der Kneipe Zum torkelnden Grafen war um diese Tageszeit nicht viel los, sodass der Raum ganz und gar von der gigantischen Gestalt hinter dem Tresen beherrscht wurde, Adolphus dem Großen, Gastwirt und Mitbesitzer der Kneipe. Trotz seiner Größe – selbst mich mit meinen eins achtzig überragte er noch um einen Kopf – war sein fassförmiger Körper so ausladend, dass er korpulent wirkte. Wenn man genauer hinsah, stellte man jedoch fest, dass er nicht aus Fett, sondern aus Muskeln bestand. Adolphus war schon potthässlich gewesen, bevor ihn ein Armbrustbolzen der Dren das linke Auge gekostet hatte, und die schwarze Binde, die er über der leeren Augenhöhle trug, sowie die Narbe, die sich über seine von Pocken entstellte Wange zog, hatten ihn in keiner Weise schöner gemacht. Dieses Aussehen und sein stierer Blick ließen ihn wie einen
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