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Ein Sturer Hund

Titel: Ein Sturer Hund
Autoren: Heinrich Steinfest
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Selbiges stellte eine Folge sich logisch bedingender Grundsätze, Empfehlungen und Gedanken dar, welche alle einen gewissen wittgensteinschen Duktus besaßen. Umso mehr, als sie in einem System aus Dezimalzahlen geordnet waren, das an jenes des österreichischen Philosophen erinnerte, jedoch nur sehr bedingt an seinen Geist. Nicht, daß Cheng mit allem einverstanden war, was er darin las, und doch empfand er dieses Büchlein als große Hilfe, als großen Trost und als etwas Geheimnisvolles, in dem er sich gerne verlor.
    Als er da jetzt auf der Bank saß, tief im Schatten des Baumes, umgeben vom Funkenregen der durch die Blätter dringenden Lichtflecken, las er den Beginn des zweiten Abschnitts:
     
2
Auf ein Wunder zu hoffen, ist nicht von vornherein unvernünftig.
2.1
Die Unvernunft ergibt sich allein aus dem falschen Moment.
2.2
Außerhalb der Metaphysik ist das Wunder nicht nur denkbar, sondern auch notwendig.
2.21
Das Wunder ist Teil der Natur. Die Natur bringt Wunder hervor, um eine Balance zwischen dem Wahrscheinlichen und dem Möglichen zu halten.
2.22
Das Wunder verbieten zu wollen oder seine Unmöglichkeit zu behaupten wäre also unvernünftig.
2.3
Ist eine Situation eindeutig und vollständig aussichtslos, ist es gerade für den Positivisten sinnlos, seinen Intellekt weiterhin zu bemühen, sich also seinen Kopf zu zerbrechen. Vielmehr ist dies der Moment, da man auf ein Wunder hoffen sollte.
2.31
Tritt das Wunder ein, so ist 2 bestätigt. Tritt es nicht ein, so ist 2.1 bestätigt.
     
    Cheng hatte diese Stelle schon mehrfach gelesen und war sich noch immer unsicher, ob er sie wirklich verstand und wie ernst sie überhaupt gemeint war. Aber einen Nutzen besaß sie auf jeden Fall. Und dies galt schließlich für die meisten Dinge, die einen katholischen Hintergrund, aber eine materialistische Ausformung besaßen.
    »Grüß dich!«
    Der Mann, der sich näherte, trug eine kurze Hose und ein verwaschenes, ärmelloses Leibchen, auf dem das Cover von Bruchlandung aufgedruckt war. Es war natürlich Moritz Mortensen, dessen dünne, rote Arme aus dem gut gefüllten T-Shirt heraushingen. Sein Kopf war von einer Sonnenbrille und einer Schirmmütze eingeschattet. Er hatte alles Elegante verloren, wie die meisten Menschen im Sommer. Freilich rann sein Schweiß um einiges gemächlicher als jener des Detektivs Cheng.
    Die Männer gaben sich die Hand. Lauscher wurde nicht begrüßt. Mortensen hatte eingesehen, daß der Hund mit dem Getätschel nicht wirklich etwas anfangen konnte und andererseits Cheng nicht beleidigt war, wenn man seinen Vierbeiner in Ruhe ließ.
    Aus dem Detektiv und seinem Auftraggeber waren Freunde geworden. Ohne daß sie ihre gegenseitige Sympathie hätten begründen können. Während im Gegensatz dazu die Abneigung zwischen Cheng und Dr. Thiel beiden Herren glasklar vor Augen lag. Ein jeder hätte tausend Gründe angeben können. Aber Zuneigung war nun mal etwas anderes. Lino da Casia hätte gemeint: »Nichts, worüber man sich den Kopf zerbrechen sollte.«
    Taten die beiden Herren auch nicht. Sie riefen einander hin und wieder an und verabredeten sich. Allerdings nie in Tilanders Bar . Crivelli hatte ihnen gegenüber ein Lokalverbot ausgesprochen, nachdem er von der Zerstörung jenes wundervollen Bierdeckels erfahren hatte, der ihm als sein Besitz erschienen war. Die näheren Umstände interessierten Crivelli nicht. Er trauerte um das Marlock-Porträt. Er trauerte um die Kunst. Der Engel in der Landschaft war für Cheng und Mortensen also gestorben.
    Zumeist trafen sich die beiden Männer im Freien, in den Parks und Gärten der Stadt. Sie sprachen über Belangloses wie Sport und Politik, auch mal über ihre Berufe. Cheng arbeitete weiterhin als Detektiv und Mortensen befand sich nun doch mitten in der Arbeit zu seinem vierten Buch, wobei es sich nicht um jenes ursprünglich geplante »Schießübungen oder Das kurze und das lange Leben der Schwestern Weigand« handelte, sondern um eine Erzählung mit dem Titel »Marlock«. Danach wollte er mit dem Schreiben aufhören. Endgültig. Er war wie ein Raucher, der sich ständig auf den nächsten Montag vertröstete. Wobei übrigens Mortensens Verwicklung in den Mordfall Thomas Marlock nicht im geringsten jene erhoffte Wirkung auf dessen Bücher nach sich gezogen hatte. Einfach darum, weil für den Menschen Mortensen dasselbe galt wie für seine schriftstellerische Arbeit. Man übersah ihn. Die Medien waren einfach nicht bereit, sich um diesen Mann zu
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