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Die Heilanstalt (German Edition)

Die Heilanstalt (German Edition)

Titel: Die Heilanstalt (German Edition)
Autoren: Simon Geraedts
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Ankunft
    »Hat Ihnen der Tee gemundet, Herr Baumgartner?«
    Die Stimme war ein fernes Echo, und die Worte hallten erst einige Male in seinem Verstand wider, ehe er ihre Bedeutung erfasste.
    »Ja, danke«, sagte er müde. »Allerdings ist mein Name nicht …«
    »Legen Sie Ihre Schuhe und die Kleidung bitte auf das Band und gehen Sie dann durch die Kontrolle.«
    Er fasste sich an die Schläfe. Ihn plagten keine Kopfschmerzen, aber seine Gedanken schleppten sich träge durch den Verstand, und sein Gedächtnis war wie mit einer schleimigen Substanz verklebt. Nicht einmal sein eigener Name wollte ihm einfallen. Er rieb sich die Augen und blickte die Frau an, die vor dem Band saß und seinen Blick ungeduldig erwiderte. Sie war blass, jung und mager. Sie wirkte schläfrig, dunkle Ringe standen ihr unter den Augen … und ihre Augen …
    »Würden Sie bitte fortfahren, Herr Baumgartner! Sie wollen doch nicht die anderen Gäste warten lassen!«
    Er wandte sich um, aber sah hinter sich niemanden; nur die Rolltreppe, die surrend nach unten lief und ihn hierher geführt hatte.
    »Entschuldigen Sie«, hauchte er. »Mir ist unwohl.«
    Er bückte sich und zog stöhnend die Stiefel von den Füßen. Dann legte er sie auf das Band, das daraufhin quietschend anlief und das Schuhwerk in einen rechteckigen Durchleuchtungsapparat beförderte. Er schüttelte benommen den Kopf und wollte durch die Kontrolle gehen.
    »Bitte auch die Kleidung!«, rief die junge Frau.
    Na, hören Sie mal! , wollte er protestieren. Aber seine Zunge klebte am Gaumen, und seine Lippen waren wie versiegelt. Er verzog das Gesicht und fasste sich wieder an die Schläfe. Dann entledigte er sich des Mantels und der Stoffhose und legte die Kleidung auf das laufende Förderband. Nur in Unterhose schleppte er sich durch das Kontrolltor. Der Alarm blieb stumm und die Warnlampe über dem Tor dunkel.
    »Danke, Herr Baumgartner.«
    Noch einmal sah er die Frau an. Sie wirkte zerstreut, wie weggetreten. Tiefe Falten von Müdigkeit durchfurchten ihr Gesicht, und in ihren Augen stand … ihre Augen waren …
    Er senkte den Kopf und fühlte einen Schwindel über sich hereinbrechen. Zitternd streckte er einen Arm nach Halt aus, fand keinen und schwankte zwei Schritte zur Seite.
    »Ah, Herr Baumgartner, ich grüße Sie! Wir haben Sie schon erwartet. Mein Name ist Gabriel von Wallenstein. Ich bin Ihr Therapeut.«
    Er hob den Blick und sah vor sich eine verschwommene Silhouette; einen Augenblick später erkannte er in ihr einen lächelnden Mann mit dünnem Haar und grauem Schnurrbart. Sein Kittel war strahlend weiß und fiel wie ein Vorhang auf die Schuhe. Sein Gesicht war von zarter Mimik. Aber seine Augen …
    »Mein Name ist nicht …«
    Er brach ab und strauchelte vorwärts.
    »Oh, na Vorsicht!«, rief der Mann im weißen Kittel und hielt ihn lachend fest. »Sie sind bestimmt erschöpft von der langen Reise. Kommen Sie, ich begleite Sie auf Ihr Zimmer. Es wird Ihnen gefallen, das verspreche ich. Aber ziehen Sie zuvor doch bitte einen unserer Bademäntel an. Wir wollen doch keine Erkältung riskieren, nicht?«
    Der Mann schmunzelte liebevoll und hielt ihm ein weißes Bündel Kleidung hin.
    Wo sind meine Sachen? , wollte er fragen. Aber seine Zunge war taub und brachte keine Silbe zustande. Er nahm das Bündel widerwillig entgegen und betrachtete es mit müdem Blick. Kurz darauf entfaltete er es, zog den Bademantel über und band sich den dazugehörigen Gürtel um die Taille. Zuletzt schlüpfte er in ein Paar weißer Pantoffeln.
    »Ruhen Sie sich erst einmal eine Nacht lang aus, Herr Baumgartner, und Sie werden sich fühlen wie neugeboren. Glauben Sie mir, viele unserer Patienten müssen sich erst an unsere Luft gewöhnen. Ja, manchen ging es schon schlechter als Ihnen.«
    Der Mann nahm ihn an der Hand und führte ihn durch eine Flügeltür in einen großräumigen Speisesaal. Dort hingen prunkvolle Kronleuchter an der Decke, und mindestens dreißig runde Tische, jeweils von vier hölzernen Stühlen umgeben, standen vor einem leeren Buffettisch.
    »Frühstück beginnt um sieben, Mittagstisch ab zwölf, Abendbrot um sechs. Seien Sie unbesorgt, wir werden Sie rechtzeitig wecken.«
    Der Mann umklammerte die Hand seines neuen Patienten, als fürchtete er, er könnte sich losreißen und flüchten. Doch dieser versuchte stattdessen den Eiter zu durchdringen, der sein Gedächtnis verklebte.
    »Thomas … wo bist du …«
    Der Mann im weißen Kittel verzog das Gesicht, als hätte
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