Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Ein Sturer Hund

Titel: Ein Sturer Hund
Autoren: Heinrich Steinfest
Vom Netzwerk:
an, schenkte ihm einen silbrigen Augenaufschlag und sagte: »Mein Schutzengel.« Es klang ein wenig sehr spöttisch. Cheng stöhnte.
    Vorne, neben dem Fahrer, saß Dr. Thiel, drehte sich um und fragte: »Warum stöhnen Sie?«
    »Ach nichts.«
    »Dann ist es ja gut«, meinte der Kriminalist, richtete sich wieder nach vorn und griff nach dem Sprechteil eines Funkgeräts: »Wir fahren jetzt los. Gemäßigtes Tempo. Bis auf weiteres.«
    Gleichzeitig mit dem Kleinbus setzten sich mehrere Polizeiautos in Bewegung, bildeten eine tönende Eskorte. Eine Prozession im Schnee.
    Es war zunächst nicht die Schulter, welche Dr. Thiel auffiel. Sondern ein Ausspruch. Er redete mit dem Fahrer, einem Mann in mittleren Jahren, der den Wagen perfekt zu steuern verstand. Was bei diesen Verhältnissen ein wahres Glück bedeutete. Dr. Thiel hatte schon ganz anderes erlebt. Das Gespräch ging darum, welche Route man nehmen sollte, ob es vielleicht besser war, den raschen, direkten Weg zu meiden und das Landeskriminalamt über einige Umwege anzusteuern. Nicht, daß Dr. Thiel jetzt noch an einen Hinterhalt glaubte. Aber er wollte einfach sichergehen. Und er wollte keine weitere Überraschung erleben.
    Ein frommer Wunsch, der unerfüllt blieb. Denn als sich Thiel nun an den Fahrer wandte und meinte, es sei besser, mit der Kirche ums Dorf zu fahren, um auf diese Weise die Sicherheit von Frau Balcon zu gewährleisten, da war es so, daß der Fahrer zunächst einmal stutzte. Er schien irritiert, als wisse er nicht wirklich, was das zu bedeuten habe: mit einer Kirche ums Dorf fahren. Dann jedoch, wie um nicht stumm zu bleiben, sagte er: »Ja. Wir Polizisten haben ein großes Herz.«
    Jetzt war es Dr. Thiel, der stutzte. Die Phrase war ihm nicht neu. Auch lag es nicht lange zurück, daß er sie gehört hatte. Er brauchte nur an den Vorabend zu denken. Jener Mann, den er, Thiel, mit einem Schulterschuß (oder auch nur einem Streifschuß im Bereich der Schulter) daran gehinderte hatte, Cheng zu liquidieren, jener Mann also hatte genau denselben eigentümlichen Ausspruch getan: daß Polizisten ein großes Herz hätten. Nicht unbedingt eine Allerweltsphrase.
    Wenn es sich nun bei diesem Mann um jenen englischen Agenten handelte, dann war es durchaus möglich, daß er trotz des akzentfreien Deutsch, das er sprach, mit einiger Verwirrung der Metapher gegenüberstand, die sich aus einer Kirche ergab, die um ein Dorf herum chauffiert wurde. Bevor ihm dann sein markanter Satz vom großen Herz der Polizisten entschlüpft war.
    Dr. Thiels Überlegungen nahmen einen Raum von wenigen Sekunden ein. Dann starrte er bereits auf die Schulter des Fahrers. Dieser trug eine lederne Dienstjacke, also ein nicht gerade enganliegendes Kleidungsstück. Dennoch meinte Dr. Thiel eine ungewöhnliche Anhebung der ihm zugewandten, rechten Schulter zu erkennen, eine Anhebung, die nichts mit einem modischen Schulterpolster zu tun hatte, sondern den Verband verriet, der sich an dieser Stelle befinden mußte. Was die Vermutung nahelegte, es handle sich um jenen Mann, der am Abend zuvor in Chengs Büro gewesen war. Auch wenn sein Gesicht nun um einiges jünger, dabei gleichzeitig verlebter wirkte. Wozu es kein Wunder brauchte, sondern bloß ein wenig Schminke. Chamäleons.
    Es hätte in diesem Moment für Dr. Thiel einiges zu überdenken gegeben. Vor allem, ob er sich das alles nicht bloß einbildete. Ob ein kurzes Zögern angesichts einer Redewendung, ein aufgebauschter Schulterteil und ein kecker Spruch denn tatsächlich Beweis genug dafür waren, daß es sich bei dem Fahrer um einen Agenten des MI6 handelte? Doch Dr. Thiel reagierte sofort. Er zog seine Waffe aus der Tasche und drückte die Mündung gegen die Schläfe des Fahrers. Dann sagte er: »Keep cool«, wie man sagt: Nichts geht mehr.
    Doch genau daran wollte sich der Fahrer nicht halten. Er wartete keine Sekunde, riß das Steuer herum, scherte aus dem Konvoi aus und fuhr den Wagen quer über die Gegenfahrbahn. Dabei streifte er einen herankommenden Wagen, besaß jedoch genügend Antrieb, um die Straße in Richtung auf ein abschüssiges Waldstück zu verlassen. Genauer gesagt stieg der Wagen auf, überflog einen kleinen Graben, schrammte einen Baumstamm, bevor er sich – noch immer in der Luft – seitlich stellte und mit eben dieser Seite in einen weiteren Baum hineindonnerte, um sich schließlich in den Schnee zu schrauben. Noch bevor dies geschehen war, hatten sich im Inneren des Wagens mehrere Schüsse
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher