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Ein Sturer Hund

Titel: Ein Sturer Hund
Autoren: Heinrich Steinfest
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Spatzen. Ja, zum Teufel, es waren Sperlinge, kleine, kompakte, braune, schwarzgestreifte Vögel, die sich in diesen Fernsehturm eingenistet hatten. Wie auch immer es ihnen gelungen war, hierher vorzudringen, denn vogelhausartige Öffnungen in der Außenhaut des Turms hielt Cheng für nicht wirklich vorstellbar.
    Nun, demolierte Radiogeräte im Betonschaft eines Fernsehturms hatte er bisher ebenfalls für unmöglich gehalten. Aber was sollte Cheng tun, er sah sie nun mal, diese mit Spatzen gefüllten alten Transistoren, diese offenen Vogelkäfige. In ihrer aufgeregt und amüsiert wirkenden, kolibriartig vitalen Weise flogen die Spatzen zwischen den Gehäusen hin und her oder drangen aus der Tiefe der Röhre nach oben. Ihre Aktivität blieb rätselhaft.
    Es war Winter, draußen lag der Schnee einen Meter hoch, und diese Tiere taten, als bauten sie Nester. Vielleicht aber resultierten ihre Bewegungen aus einer reinen Lust am Flug. Oder am Streit. Denn es wurde heftigst gezankt. Jedes Radio gehörte einer bestimmten Gruppe, die ihren Bau zu verteidigen suchte. Allerdings erschienen Cheng die Auseinandersetzungen nicht wirklich ernsthaft. Scheinattacken. Alles sehr theatralisch. Aber was wußte er schon von Spatzen. Noch dazu von Spatzen in Fernsehtürmen.
    Es ging ihm wie den meisten anderen Städtern. Einerseits mochte er diese Vögel, ihrer Putzigkeit und clownesken Manier wegen, andererseits empfand er sie als bedrohlich überlebensstark, und zwar auf eine beinahe schon insektenhafte Weise. Sie hatten etwas von fliegenden Käfern. Rund und robust. Und etwas von Mäusen. Flink und wendig. Rührend, aber undurchschaubar. Ganz im Gegensatz etwa zu Raben, Amseln oder Papageien, deren Charakter einem offenen Buch gleicht.
    Keiner von den Spatzen kam Cheng wirklich nahe. Keiner landete auf seiner Schulter. Schließlich handelte es sich ja nicht um dressierte Affen. Da Cheng nichts Eßbares bei sich hatte, keine Krümel verstreute, blieb er uninteressant. Für diese Vögel war er nichts weiter als ein bewegtes, harmloses Objekt, dem man auswich. Die Spatzen verhielten sich also so, wie man es von ihnen gewohnt war. Was Cheng darin bestärkte, keinem Trugbild zu erliegen. Dennoch wagte er nicht, Moira Balcon zu fragen, was sie von dem Schauspiel halte. Cheng mied es, sich ausgerechnet bei einer Verrückten zu erkundigen, ob er halluzinierte oder nicht.
    Nachdem Cheng und Balcon das untere Drittel erreicht hatten, waren mit einem Mal die Vögel verschwunden. Keine Radiogeräte mehr, keine Spatzen. Nur noch der leere Abgang. Dagegen war wieder das vermeintliche Meeresgeräusch deutlicher zu vernehmen, wobei man nun glauben konnte, sich bereits unter der Wasseroberfläche zu befinden. Die letzten zu bewältigenden Meter waren mittels roter Streifen markiert, und als Cheng und Balcon an den Ausgang gelangten, da bemerkten sie einen mit geraden Lettern sorgsam auf die Betonwand aufgemalten Spruch:
     
    DIESEN WUNDERBAREN TURM WIDMEN WIR DER WÜRDE DES MENSCHEN, DER ZUKUNFT DES FERNSEHENS, DER SPITZFINDIGKEIT DER ARCHITEKTUR, DER HERRLICHKEIT DER STADT STUTTGART UND DER PRACHT DES HIMMELS.
     
    Irgend jemand hatte mit einem dicken Filzschreiber hinzugefügt:
     
    SOWIE DER LISTIGKEIT DER SPATZEN.
     
    »Also doch«, sagte Cheng und war erleichtert, während er gleichzeitig beschloß, sich keine weiteren Gedanken über die merkwürdigen Erscheinungen städtischen Tierlebens zu machen.
    Als Moira Balcon nach der Klinke der Metalltür greifen wollte, hielt Cheng sie zurück, drängte sich vor sie und zog seine Waffe. Mit dem weggestreckten kleinen Finger öffnete er die Türe, welche unversperrt war. Er schob sich, die Pistole im Anschlag, durch den Spalt. In diesem Moment registrierte er in dem Raum, der vor ihm lag, eine zigfache Bewegung. Was sich weniger auf die Polizistenkörper bezog denn auf die Waffen, die nun auf ihn gerichtet waren. Und das, obgleich er nichts anderes erkennen konnte als den sich spiegelnden Boden der Eingangshalle.
    Im Einklang mit dieser Vermutung schrie nun jemand – oder redete auch nur ganz normal durch den verstärkenden Trichter eines Megaphons –, die Polizei habe das Gelände umstellt, eine Flucht sei unmöglich und er solle sofort die Waffe fallen lassen. Cheng senkte langsam den Lauf, ging parallel dazu in die Knie und legte sodann die Pistole gleich einem toten Hamster seitlich auf den Boden. Währenddessen bemühte er sich zu erklären, im Auftrag Rosenblüts zu handeln und folglich nicht nur
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