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Ein Sturer Hund

Titel: Ein Sturer Hund
Autoren: Heinrich Steinfest
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Bruchlandung und andere Niederlagen
    Dieser Platz war sein Platz.
    Natürlich konnte man das so nicht sagen. Zumindest nicht laut. Immerhin befand sich Moritz Mortensen in einer öffentlichen Bücherei, also an einem ausgesprochen demokratischen Ort, an dem eine Sitzplatzreservierung unmöglich war. Was nichts daran änderte, daß gewisse Stammgäste ganz bestimmte Plätze bevorzugten. Weshalb auch die meisten dieser Leser, war ihr durch Jahre und Jahrzehnte territorialisierter Platz einmal besetzt, sich mit einem bösen Blick und einer im Vorbeigehen hingemurmelten Bemerkung begnügten. Nur einige wenige drehten durch, wurden ausfällig oder gar gewalttätig. Bedauernswerte Figuren, für die mit dem Verlust ihres gewohnten Platzes praktisch ein Verlust an Identität und Sicherheit einherging, ja, die in einem solchen Moment meinten, die ganze Welt sei ihnen abhanden gekommen. Kein Wunder also, wenn sie zu toben begannen oder damit drohten, jemandem die Zähne auszuschlagen.
    Mortensen gehörte nicht zu jenen nervenschwachen Personen, welche Fäuste oder scharfe Worte bereithielten. Dennoch war seine Wut beträchtlich, als er jetzt in der Ferne erkannte, daß an dem kleinen Tisch am Ende der gläsernen Brüstung jemand saß.
    Nach Mortensens Einschätzung war es der entlegenste Ort dieser Bibliothek: geographisch wie thematisch. Einerseits lag er im äußersten Winkel des obersten Stockwerks, andererseits handelte es sich bei den dort untergebrachten Büchern um Schriften zum Leben und Werk der Dichter dieser Welt. Mortensen war dankbar für eine solche Umgebung. Er schätzte das Spröde und Kühle, welches von der Sekundärliteratur ausging.
    Seinen Stammplatz empfand Mortensen auch deshalb so ideal, weil er zwar abgeschieden lag, jedoch gleichzeitig die Möglichkeit bot, über die Brüstung auf das darunterliegende Stockwerk zu sehen. Denn Mortensen zählte zu den Menschen, die süchtig danach waren, das Leben und die darin eingesponnenen Personen zu beobachten. Er selbst fühlte sich dabei ausschließlich als Chronist, als leibhaftig gewordener Feldstecher. Und der Tisch in dieser Bücherei war nun mal einer seiner bevorzugten Aussichtsplätze.
    Während sich Mortensen über die schmale Längsseite der Galerie bewegte, blickte er schräg hinüber zu dem Mann, der auf seinem Platz saß, vor sich zwei Bücher auf dem Tisch, während er in einem dritten las. Er mochte Mitte Zwanzig sein, wirkte schlank unter dem dunklen Anzug und dem weißen Hemd, hatte schwarzes, glattes Haar, eine schwarze Brille, war durchaus attraktiv zu nennen, ließ aber jegliche Auffälligkeit vermissen. Ein Mann zum Heiraten, wenn man so will. Gepflegt. Aber auch nicht wieder so gepflegt, daß man hätte Angst bekommen müssen. Für Mortensen jedoch war dieser Kerl einfach nur ein »Stuhldieb«.
    Im Grunde hätte Mortensen sich damit begnügen können, von einem verdorbenen Nachmittag zu sprechen und an anderer Stelle nach einem freien Platz zu suchen. Oder gleich die Bibliothek zu verlassen. Das wäre – in bezug auf das, was nun kommen sollte – fraglos das beste gewesen. Hinsichtlich der Zukunft ist »Verzicht« ohnehin die einzig vernünftige Medizin.
    Mortensen aber bewegte sich trotzig auf die fatale Version seiner Zukunft hin.
    Als er sich auf wenige Meter besagtem Stuhldieb genähert hatte, bemerkte er den Buchdeckel des obenauf liegenden Bandes. Freudiger Schrecken ist eine milde Bezeichnung für das Gefühl, das ihn schlagartig in Erregung versetzte. Es handelte sich nicht um irgendein Buch, nicht um irgendeinen Thomas Mann oder irgendeinen Frisch oder Grisham, sondern um sein Buch. Es konnte kein Zweifel bestehen. Es besaß einen zitronengelben Einband, auf dessen Vorderseite eine aufrecht stehende, geöffnete Kokosnuß abgebildet war. Wobei die Öffnung sich aus dem Umstand ergab, daß die obere Polkappe gleich einem Frühstücksei abgetrennt worden war. Auf der Schnittkante waren Buchstaben aufgereiht, welche den Titel dieser zweihundertsechzig Seiten ergaben: Bruchlandung .
    Bruchlandung war das erste von den drei Büchern, welche Mortensen bei einem kleinen Verlag publiziert hatte. Doch bei aller zitronengelben Heftigkeit war diesem Roman nicht der geringste Erfolg beschieden gewesen. So wenig wie den beiden anderen Bänden, grasgrün und weichselrot. Im Wust der Neuveröffentlichungen besaßen Mortensens Bücher den Charakter von Elementarteilchen, deren Existenz bloß von ein paar schrägen Vögeln behauptet wurde. Nicht
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