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Ein Sturer Hund

Titel: Ein Sturer Hund
Autoren: Heinrich Steinfest
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Foyer verließen und über die beiden seitlichen, großzügig auskragenden Abgänge davoneilten. Als er eine weitere Zigarette anzündete war es eine halbe Minute vor sieben Uhr. Die letzten Besucher wurden aus dem Gebäude entlassen. Mortensen hatte sich – indem er kein einziges Mal nach hinten gesehen hatte – eine letzte Chance gegeben. Die Chance, diesen jungen Mann, diesen Leser seiner Bücher aus den Augen zu verlieren. Er rauchte seine Zigarette ohne Hast zu Ende und schnippte den bereits angekohlten Filter in die Luft. Noch bevor die Hülse gelandet war, hatte Mortensen sie aus dem Blick verloren. Dann machte er sich auf den Weg, durchaus zufrieden damit, eine Peinlichkeit vermieden zu haben.
    »Bücher werden gelesen«, sagte er sich. »Daran ist nichts Erstaunliches. Und schon gar nicht etwas Unheimliches.«

Aquariumspflege
    Das Aquarium ist Welt.
    ( Er redete mit dem Vieh , den Vögeln und den Fischen , Konrad Lorenz)
     
    Auf dem Bahnsteig herrschte großes Gedränge. Dennoch erkannte Mortensen auf einer der Bänke eine schmale Lücke. Die beiden Frauen, zwischen die er seinen Körper preßte, betrachteten ihn widerwillig. Sein eigener Widerwille war kaum geringer, aber es war nun mal so, daß er die Beengtheit im Sitzen jener im Stehen vorzog.
    Seit einigen Wochen registrierte er einen Schmerz in seinen Beinen. Einen Schmerz, vergleichbar einem Geräusch, das völlig undefinierbar bleibt. Das so wenig zunimmt, wie es abklingt. Ein Klopfen an der Wand, wobei nicht genau zu sagen war, gegen welche Wand eigentlich geklopft wurde. Ein Schmerz ohne Geographie, sieht man davon ab, daß mit Sicherheit die Beine bis hin zu den Hüften betroffen waren. Dabei hätte Mortensen nicht einmal zu sagen gewußt, ob es sich um einen wandernden Schmerz handelte und ob wirklich beide Beine gleichzeitig betroffen waren. In jedem Fall wäre es sinnvoll gewesen, einen Arzt zu konsultieren. Bei einem Sechsundvierzigjährigen, der sein Leben zur Hauptsache dem Verschleiß gewidmet hatte, war ein gleichbleibender Beinschmerz wohl kaum geeignet, um in Büchereien und auf den Bänken der Stadtbahn ausgesessen zu werden.
    Doch Mortensen gehörte zu den Menschen, die in einem jeden Arzt einen Handlanger des Todes sahen. Da er aber andererseits auch nicht zum Privatgelehrten in Sachen des eigenen Körpers geworden war und die alternative Medizin bloß als verschämte Version der üblichen Handlangerdienste verstand, war ihm nichts anderes übrig geblieben, als Probleme mit dem eigenen Körper zu ignorieren oder eben auf Zeit zu setzen. Eine Strategie, die bisher gar nicht so schlecht funktioniert hatte.
    Freilich meinten viele von Mortensens Bekannten und Freunden, Mortensen würde seine Nachlässigkeit noch bereuen und demnächst halbtot, in jedem Fall recht willenlos auf dem Operationstisch eines der von ihm so gefürchteten Zuarbeiter des apokalyptischen Reiters landen.
    Mortensen hingegen war fest entschlossen, niemals lebend zwischen die Finger eines Mediziners zu gelangen. Und wie sagte einer seiner Freunde, der sich als Chirurg verdingte: »Die Freude können wir dir machen.«
    Dabei war nicht die Rede davon, daß es Mortensen am nötigen Geld oder einer Krankenversicherung gemangelt hätte. Obzwar nicht eigentlich vermögend, verfügte er durchaus über eine finanzielle Sicherheit. Seine Frau, die Anfang der Neunzigerjahre bei einem Flugzeugunglück ums Leben gekommen war, hatte ihm zwei Grundstücke hinterlassen, welche sich zunächst als reine Belastung, dann aber – im Zuge eines städteplanerischen Meinungswechsels – als nachgerade bedeutsam herausgestellt hatten.
    Mortensen war nicht ungeschickt vorgegangen, hatte sich ein wenig geziert, dann jedoch die beiden Liegenschaften zu einem Preis veräußert, der bis dahin abseits seiner Zukunftsträume gelegen hatte. Für ihn war die Rechnung eine simple gewesen. Würde er weiterhin das ihm vertraute durchschnittliche Leben führen, die Zwei-Zimmer-Wohnung nahe dem Südheimer Platz behalten und sich auch sonst zu keinen Prassereien versteigen, so wäre er in der Lage, bis an sein von ihm selbst prognostiziertes Lebensende in den Jahren 2020 bis 2025 ein sorgenfreies, allein der Schriftstellerei gewidmetes Dasein zu führen. Den ebenso durchschnittlichen Fortlauf der gesamten Gesellschaft vorausgesetzt. (Daß er sich jedoch an die Ausschließlichkeit der Romanherstellung nicht ganz hielt, davon wird noch die Rede sein.)
    Auch wenn es hart klingt: Der Tod seiner Frau
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