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Ein Sturer Hund

Titel: Ein Sturer Hund
Autoren: Heinrich Steinfest
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ausgehen.«
    Doch so sehr Mortensen in Gedanken das nochmalige Auftreten des Dunkelblauen zu bagatellisieren versuchte, unterließ er es, das einzig Vernünftige zu tun, nämlich endlich in seinen Zug einzusteigen. Erst als dieser bereits abfuhr, registrierte Mortensen sein Scheitern. Ihm wurde klar, daß mit dieser Bahn auch die Möglichkeit abgefahren war, sich einer Versuchung zu entziehen. Vorbei! Er gab seinem Drang nach, verließ den Bahnsteig und fuhr die Rolltreppe nach oben. Mit einem Mal erfüllte ihn die Angst, er könnte den anderen verlieren. Rasch stieg er die fahrenden Stufen aufwärts. Oben angekommen, verfiel er in einen Laufschritt, begann schließlich zu rennen, sprang die Treppen abwärts und erreichte in dem Augenblick den Bahnsteig, als der andere in das Innere eines eben eingefahrenen Zuges trat. Es gelang Mortensen nicht mehr, in denselben Wagen einzusteigen. Er sprang in den dahinterliegenden, um sich in den vorderen Abschnitt zu begeben, wo er sich in den Gang stellte und durch die beiden Sichtscheiben zu dem Mann stierte, den er verfolgte. Auch der Dunkelblaue verzichtete darauf, sich zu setzen, lehnte stattdessen gegen eine Stange und zog eines der Bücher, diesmal das grasgrüne, aus der Tasche. Er begann nicht wirklich die Geschichte zu lesen, sondern blätterte herum, schien sich für einzelne Zeilen oder Kapitelüberschriften zu interessieren und studierte dann den biographischen Vermerk auf der Umschlagklappe: Moritz Mortensen , geboren am 2 . 5 . 1955 in Reckholder nahe Chicago , aufgewachsen in Westberlin und im vorarlbergischen Dalaas , lebt seit zwanzig Jahren in Stuttgart . War in verschiedenen Berufen tätig , als Kranführer , Gymnastiklehrer , Altenbetreuer und Mitglied der Rockgruppe » Treibende Knospen weinen nicht «. Eigentlich gelernter Dachdecker , einen Beruf , den er wegen seiner Höhenangst nie ausübte .
    Die Sache mit der Höhenangst war schlichtweg gelogen. Was einem konzentrierten Leser auch sofort auffallen mußte. Zwar war es durchaus denkbar, daß ein Jugendlicher von seinen Eltern in eine Dachdeckerlehre gezwungen wurde, um dann den Rest seines Lebens jeglicher Tätigkeit in höher gelegenen Regionen auszuweichen. Dann aber konnte es wohl nicht stimmen, daß so jemand einen Job als Kranführer annahm. Die Erwähnung der Kranführerstelle war eine Peinlichkeit sondergleichen, die dem Lektor ins Auge hätte springen müssen. Was aber nicht geschehen war. Mortensen selbst hatte sich seinem Verleger gegenüber nie dazu geäußert, was denn der Widerspruch zwischen Höhenangst und Kranführertum zu bedeuten habe. Wie auch hätte er diese Unwahrheit, dieses grobe Spiel mit einer an Hitchcock gemahnenden Phobie erklären können? Seine Entscheidung, nach Beendigung seiner Lehre nie wieder auf ein Dach zu steigen, war gegen seinen Vater, nicht aber gegen die luftige Höhe gerichtet gewesen.
    Eine weitere Unredlichkeit bestand darin, daß jener Beruf unerwähnt blieb, in dem Mortensen die längste Zeit seines Lebens tätig gewesen war. Beinahe zehn Jahre hatte er als ehrgeizloser Büroangestellter verbracht, während hingegen sein Job als Gymnastiklehrer in die Zeit nach Beendigung der Dachdeckerlehre fiel und nur wenige Wochen gedauert hatte. Aber selbst »Altenpfleger« hörte sich noch besser an als »Büroangestellter«. Gerade so, als reiften in den Etagen der subalternen Schreibtischarbeiter immer nur Herzinfarktkandidaten und Langeweiler heran, niemals aber Menschen, die sich auf eine scheinbar rücksichtslose Weise der Sprache bedienten. Vergleichbar den Züchtern ominöser Schoßhündchen und fleischfressender Pflanzen.
    Auch, daß er in der Nähe von Chicago das Licht der Welt erblickt hatte, klang spannender, als es war. Seine aus Norwegen stammenden Eltern waren Anfang der fünfziger Jahre ausgewandert und hatten in Reckholder einen kleinen Blumenladen eröffnet. Sie waren jedoch mit dem amerikanischen Lebensstil nicht wirklich zurechtgekommen und bald nach der Geburt des Sohnes zurück nach Europa gegangen.
    Aber in ihre alte Heimat wollten beide nicht. Das ging so weit, daß keiner von ihnen je norwegisch sprach. In Westberlin, wo Frau Mortensen als Haushaltshilfe einer Diplomatenfamilie arbeitete, besuchte Moritz die Schule. Vater Mortensen, eigentlich Biologe, trieb sich in den Hinterzimmern einschlägiger Lokale herum und erlernte die nehmende und gebende Fertigkeit diverser Glücksspiele. Sein Haß gegen alles Studierte, gegen den akademischen
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