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Ein Sturer Hund

Titel: Ein Sturer Hund
Autoren: Heinrich Steinfest
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Menschen als parasitäre Erscheinung, nahm immer fanatischere Formen an. Dabei wurde er in keiner Weise von einer ideologischen Haltung angetrieben. Zumindest keiner offiziellen. Er hielt alles Politische für überflüssig, nämlich für eine Erfindung von Akademikern, die seit jeher versuchten, ihre sogenannte Gelehrtheit als reines Kriegswerkzeug zu gebrauchen, um die Nichtgelehrten in Schach zu halten. Seinen eigenen Ausflug in die Biologie betrachtete er als die bitterste Lehre seines Lebens. Biologen seien echte Schweine, Verfälscher der Wirklichkeit, die allesamt von einem religiösen Komplex geleitet würden. Und deren persönliche Krise also das allgemeine Weltbild bestimme, gerade so, als würden ein paar Zwerge mit schlechten Zähnen alles und jeden auf schlechte Zähne reduzieren.
    Weshalb er zur Überzeugung gekommen war, allein mittels Glücksspielen ein anständiges Leben führen zu können, einerseits wegen des illegalen Charakters, andererseits weil das Spiel selbst außerhalb einer politischen Ordnung stand. Da nun aber auch in der Berliner Unterwelt durchaus Regeln existierten, geriet der Freigeist Mortensen – der so frei war, falsch zu spielen – in bedeutende Bedrängnis. Es blieb ihm nichts anders übrig, als mit seiner Familie aus Westberlin zu flüchten. Diese Flucht war wie ein beliebig in die Luft geworfener Ball, der dann ausgerechnet auf jenem geographischen Punkt landete, den das vorarlbergische Dalaas ausfüllte. Frau Mortensen – eine Person von großer Geduld und nicht unerheblicher Schönheit – wurde Sekretärin am Pfarramt und ehrenamtliche Mitarbeiterin des Bürgermeisters in Fragen der Brauchtumspflege. Sie entwickelte sich rasch zum gern gesehenen Gast diverser gesellschaftlicher Anlässe und galt allgemein als der gute Geist zwischen Kirche und Politik, als eine ganz und gar menschlich-weibliche Idealbesetzung.
    Währenddessen trat ihr Gatte etwas kürzer und lenkte sein Falschspiel in moderatere Bahnen. Zudem war man in Dalaas zu dieser Zeit erstaunlich tolerant. Weder stieß man sich daran, daß die Brauchtumspflege ausgerechnet in den Händen einer Norwegerin lag, noch meinte man, der geplagten Frau Mortensen die nicht ganz sittlichen Aktivitäten ihres Mannes vorwerfen zu müssen.
    Dessen Entscheidung, seinen Sohn Moritz bei einem der hiesigen Dachdeckermeister in die Lehre zu schicken, war natürlich eine, die sich vor allem gegen die Möglichkeit richtete, der Sohn könnte langfristig mit einer akademischen Karriere liebäugeln. Offensichtlich glaubte Peter Mortensen, daß gerade die schwindelerregende Dachdeckerei eine aseptische Wirkung in bezug auf den Drang nach universitärer Bildung besaß. Nun, der gute Mann war sicher nicht ganz normal. Was seine Frau besser zu ertragen schien als sein Sohn. Welcher übrigens nie wieder nach Chicago kam.
    Nach abgeschlossener Lehre ging Moritz nach Dornbirn, fort von den Eltern und der Dachdeckerei, arbeitete sich stückchenweise nordwärts, zog nach Bregenz, wechselte ein Jahr später nach Deutschland, lebte in Konstanz, später in Rottweil und blieb schließlich wie ein erlahmter Handlungsreisender in Stuttgart hängen. Ohne große Begeisterung für diese Stadt, aber eben doch zu müde, um sich noch einmal aufzumachen.
    Selbst der Hinweis in seiner Vita, Mitglied einer Rockband gewesen zu sein, war nicht wirklich korrekt. Zwar hatte Mitte der Achtzigerjahre tatsächlich eine Gruppe namens Treibende Knospen weinen nicht existiert, welche Texte der deutschen Romantik mit einem schwermetallischen Sound verbunden hatte, aber eben ohne Beteiligung Moritz Mortensens. Er war bloß mit der Leadsängerin liiert gewesen und hatte aus rein stilistischen Gründen auf dem Coverfoto einer LP posiert. Mit der Musik selbst hatte er absolut nichts zu tun gehabt und selbige auch für schwachsinnig gehalten. Dennoch fand er es eineinhalb Jahrzehnte später – die »Knospen« waren längst im Eis eines überraschenden Winters zu Grunde gegangen – für opportun, seiner Biographie eine wilde musikalische Vergangenheit anzudichten.
    War Moritz Mortensen ein Lügner? Nun, so konnte man das eigentlich nicht sagen. Er tat das, was die meisten Menschen taten, die angesichts eines wenig bedeutsamen Lebens das Gegebene mit leichter Übertreibung zu dramatisieren versuchten. Wer konnte oder wollte darauf verzichten? Wer machte nicht aus zwei Überstunden drei? Wer unterließ es, eine konventionelle Sauferei zu einem ultimativen Besäufnis umzudeuten?
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