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Ein Sturer Hund

Titel: Ein Sturer Hund
Autoren: Heinrich Steinfest
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den Tod hinausgehende, ja eigentlich durch den Tod gefestigte Loyalität sogar einen massiven erotischen Reiz. Man kann durchaus sagen, daß der wenig attraktive Moritz Mortensen ein begehrter Mann war. Und dies sicher nicht wegen seiner literarischen Tätigkeit, die auch im engsten Freundeskreis fast völlig unbemerkt blieb.
    Einen Moment war er eingenickt, ein paar Sekunden oder auch Minuten. Die Lautsprecherstimme holte ihn zurück auf den Bahnsteig, der jetzt schwarz von Menschen war. Wegen eines »Personenschadens« müsse mit größeren Verspätungen gerechnet werden.
    »Ist also wieder einer gesprungen«, dachte Mortensen wehmütig. Und wie die meisten anderen auch, die hier standen oder saßen, kam er ins Grübeln. Nicht, daß er ernsthaft an Selbstmord dachte. Aber groß war die Verführung schon. Allerdings nicht minder groß der Aufwand, den das Abfeuern einer Pistolenkugel bedeutete, die Einnahme ausreichend vieler Tabletten oder etwa das Steuern des Wagens gegen ein wirklich robustes Objekt der Natur. Dies alles bedingte Vorbereitungen und Anlaufzeiten, die dazu angetan waren, von der Lebensmüdigkeit in eine Suizidmüdigkeit zu verfallen und zu erkennen, daß es wahrscheinlich leichter war, weiterzuleben als sich umzubringen. Der Sprung auf die Gleise jedoch war – zumindest für die Person, die sprang – herrlich unkompliziert. Nicht gerade sauber, aber einfach und sicher. Und die ganze Schweinerei, die dabei entstand und die ja irgend jemand wegzuschaffen hatte, nur für jenen potentiellen Selbstmörder ein Problem, der sowohl in sozialen als auch in postumen Kategorien dachte.
    Mortensens Wehmut war rasch verflogen. Stattdessen erfüllte ihn nun Ärger: So ein Selbstmord stelle ja im Grunde eine Frechheit dar. Was wäre gewesen, hätten es sich alle, die des Lebens überdrüssig waren, so einfach gemacht? Hätte ein jeder dem Bedürfnis nachgegeben, mit einem einzigen Schritt einen Fluß zu überqueren, in dem die anderen erbärmlich absoffen? Nein, es störte ihn keineswegs, wenn jemand Hand an sich legte, vorausgesetzt, daß der Betreffende sich dabei auch wirklich der eigenen Hand bediente. Aber jemand, der vor die Bahn sprang und damit eine ganze Strecke der Stuttgarter Stadtbahn lahmlegte, kam Mortensen wie einer von diesen Fettsäcken vor, die nicht mittels quälenden Sports oder quälender Diäten abzunehmen versuchten, sondern sich das Fett absaugen ließen. Ja, das war der Vergleich, den er für passend hielt.
    Zwanzig Minuten später fuhr der erste Zug in die Station ein. Was aber kaum zu einer Lockerung der kompakten Menschenmasse führte, da sich bereits zu viele Fahrgäste in den Waggons befanden. Bei alldem blieben die Leute erstaunlich gelassen. Kein Fluch war zu hören. Bloß eine leichte Unruhe beherrschte den Menschenschwarm. Eine summende Woge.
    Es brauchte noch zwei, drei weitere Züge, bevor eine sicht- und spürbare Erleichterung eintrat und Mortensen es an der Zeit fand, sich zu erheben. Als wären sie zwischenzeitlich an ihm festgewachsen, standen auch die beiden Frauen auf, um sich den auseinandergleitenden Türen zu nähern. Doch mit einem Mal stoppte Mortensen seinen Schritt. Die Frauen lösten sich gleich Raumkapseln von seinen Flanken und zogen in die gelbe Hülle des Waggons ein.
    Mortensen war stehengeblieben, da er auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig – durch die offene Tür und die dahinter befindliche Scheibe des Stadtbahnwagens hindurch – die schlanke, großgewachsene Gestalt des jungen Mannes erkannt hatte, welcher jetzt eine schwarze Tasche trug. Trotz der Kälte, die sich hier unten erheblicher ausnahm als an der Oberfläche, hatte er seinen Regenmantel über den Arm geworfen. Er wirkte nun ein wenig blasiert, nicht gerade wie ein Dandy, aber doch wie jemand, der in der Regel die stallartige Atmosphäre öffentlicher Verkehrsmitteln mied. Und auch bereute, sich wieder einmal darauf eingelassen zu haben.
    Da die Verzögerungen für beide Fahrtrichtungen galten, ging Mortensen davon aus, daß auch der andere – den er jetzt bei sich, des Anzugs wegen, den »Dunkelblauen« nannte – auf einer Bank gesessen hatte, zumindest in den hinteren Reihen verblieben war, um erst im Moment der Normalisierung nach vorn zu treten.
    »Na und?« sagte sich Mortensen. »Was ist schon dran? Ich fahre nach Hause. Er fährt nach Hause. Ein Autor und sein Leser. Noch dazu bewegen wir uns in zwei verschiedene Richtungen. Ein Abschied für immer. Davon darf man wohl
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