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Erzaehl mir ein Geheimnis

Erzaehl mir ein Geheimnis

Titel: Erzaehl mir ein Geheimnis
Autoren: Holly Cupala
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    Es ist schwer, im Schatten eines toten Mädchens zu leben. Als lebte man am Fuße eines Berges, der ständig die Sonne verdeckt. Und alle nehmen es hin, niemand sagt etwas wie: »Verdammt, dieser Berg ist aber hoch« oder: »Hey, was mag wohl auf der anderen Seite sein?« Der Berg ist einfach da, wir leben damit und keiner nimmt mehr wahr, dass er so übermächtig und groß ist. Nicht mal dann, wenn er uns mit seinem furchtbaren Gewicht zu erdrücken droht.
    Niemand erwähnt je meine Schwester. Und wenn doch, dann nur indirekt, indem sie eben nicht von ihr sprechen. Dann ist es nur ihre Erleichterung darüber, dass ich nicht so bin wie sie . Ich bin die gute Schwester. Gott sei Dank.
    Über meine Schwester zu reden … es gibt wohl keine größere Sünde. Alexandra, Andra, Alex. Für mich Xanda – die war, die ist, die immer sein wird. Ihren Namen nur auszusprechen, kommt in meiner Familie einer Gotteslästerung gleich.
    Xanda war ganz anders als wir alle. Tennissocken und Mary Janes. Den Lippenstift immer ein klein wenig verschmiert, als sei sie gerade wild und leidenschaftlich geküsst worden. Unter Kleidern trug sie Strumpfhosen mit Laufmaschen, die definitiv nicht keusch aussahen. Schlampig irgendwie und abstoßend und dabei doch anziehend. Abstoßend in den Augen meiner Eltern. Anziehend für mich.
    Mit zehn übte ich ihren Schmollmund vor dem Spiegel. Mit zwölf probierte ich ihre Kleider an, heimlich natürlich. Ich war wie elektrisiert davon, wie ihre Shorts meine Pobacken förmlich umklammerten und meine Unterhose völlig unnütz wirken ließen. Xanda war damals siebzehn, sie trug keine Unterhosen.
    Eines Tages erwischte sie mich, als ich ihre Stiefel und ihr Kleid aus Sicherheitsnadeln anhatte, das sie geduldig und sorgsam zusammengesetzt hatte wie das Kettenhemd eines Rockstars. Ich erschrak so sehr, dass ich mir eine Nadel in den kleinen Finger stach. Und für einen Moment dachte ich, sie würde mir einen Absatz ihrer Stöckelschuhe mitten ins Herz stoßen.
    Aber Xanda tat mir nichts. Stattdessen warf sie den Kopf zurück und lachte schallend. Schließlich erdrückte sie mich fast mit ihrer Umarmung. Sie hatte diesen säuerlich scharfen Geruch an sich und ich wusste, dass sie bei Andre gewesen war.
    Bei diesem Andre mit der temperamentvollen Stimme und einer Hautfarbe wie Milchkaffee. Café con leche, nannte er es. Süß und gefährlich. Ein bisschen was von einem Gauner, sagte Andre. Ein bisschen was von einem Lustmolch, sagte meine Schwester.
    Nachdem sie meinen Finger verbunden hatte, bestand Xanda darauf, dass ich die Stulpen aus Sicherheitsnadeln anprobierte. Sie schlackerten wie Ketten um meine Knöchel. Klimper, klimper, klirr. Mit festem Griff schob sie mich vor den großen Spiegel, der an der Innenseite ihrer Zimmertür hing.
    Das Metall der Sicherheitsnadeln glänzte auf meinen gerade mal zwölf Jahre alten Hüften. Xanda stand hinter mir, das Licht, das durch das Fenster fiel, ließ ihr zerzaustes Haar wie einen Heiligenschein wirken. Sie selbst strahlte auch, aber auf andere Weise. In ihrem weiten, durchsichtig-weißen Kleid sah sie aus wie ein Geist – wenn sie lächelte, wie ein unheiliger Engel.
    Sie musterte mein Gesicht mit zusammengekniffenen Augen, wie es Künstler tun, wenn sie ihre Leinwand betrachten.
    »Weißt du was?«, sagte sie. »Ich finde, du solltest nicht mehr Mandy heißen.«
    »Etwa Miranda?«, fragte ich.
    »Nein, ich dachte da eher an … Rand. Ja, Rand klingt viel cooler als Mandy. Irgendwie aufregender. Findest du nicht?«
    Ich sprach den Namen einige Male aus, um herauszufinden, wie er sich anhörte. Rand. Rand würde ein Kleid aus Sicherheitsnadeln tragen. Rand könnte wahrscheinlich auch ab und zu ohne Unterhose ausgehen. Rand, das klang fast wie Xanda. Der Name gefiel mir.
    »Soll ich dir ein Geheimnis verraten?«, flüsterte ich in Richtung des Spiegelbilds meiner Schwester.
    »Erzähl«, flüsterte sie zurück. »Erzähl mir ein Geheimnis, dann erzähle ich dir auch eins.«
    Ich drehte mich zu ihr und legte meine Hände an ihr Ohr. Unsere Mutter konnte schließlich jeden Moment reinplatzen, und sie würde wie so oft eine perfekte Situation mit irgendeiner abschätzigen Bemerkung zerstören. Andres Duft hing noch immer in Xandas Haar, er stieg mir in die Nase und verlieh meinem Satz noch mehr Leidenschaft. »Ich will so sein wie du!«
    Xanda taumelte ein Stück zurück, das Lächeln auf ihrem Gesicht verwandelte sich in eine Grimasse und dann in ein
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