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Außer sich: Roman (German Edition)

Außer sich: Roman (German Edition)

Titel: Außer sich: Roman (German Edition)
Autoren: Ursula Fricker
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    Bastian, bist du schon wach?
    Er drehte sich auf die andere Seite.
    Es war kurz nach sieben. Wir wollten übers Wochenende nach Mecklenburg fahren, Jana, Bernd und die Kinder besuchen. Eigentlich hatte ich gar keine Lust.
    Ich setzte Kaffee auf und ging hinaus auf den Balkon. Man sah kaum weiter als in die Kronen der Kastanien vor unserem Haus, früh verwelktes Laub, nur der rote Klinker der Gethsemanekirche, vom Morgenlicht beschienen, leuchtete da und dort durchs Blattwerk. Überall saßen diese ekelhaften Miniermotten, winzige, gestreifte, fast durchsichtige Falterchen. Ich wischte das Ungeziefer von Tisch und Stühlen. Die Rose auf dem Sims ließ schon den Kopf hängen, ich wechselte das Wasser.
    Ein warmer Wind ging.
    Ich deckte den Tisch draußen.
    Bastian?
    Er brummelte etwas und zog sich das Laken über den Kopf. Ich beugte mich zu ihm, meine Lippen tasteten durch den Stoff nach seinem Ohr, hallo, flüsterte ich, ist da jemand? Am vorigen Tag hatte er einen Termin in Teltow gehabt, Einfamilienhaus für jemanden, dem es nicht auf den Cent ankam. Kam es jemandem nicht auf den Cent an, konnte Sebastian arbeiten, wie er es liebte. Leider war das eher selten. Bis tief in die Nacht hatte er gestern am Schreibtisch gesessen, Räume entworfen, Formen skizziert.
    Da packte er mich, ich verlor das Gleichgewicht und ließ mich auf ihn fallen. Er kitzelte mich, ich kitzelte ihn, wir balgten hin und her und quiekten, und dann schwang er sich auf meinen Bauch. Ich bekam kaum noch Luft, musste lachen, konnte fast nicht mehr aufhören zu lachen. Runter, Bastian, ich krieg keine Luft, du tust mir weh! Er richtete sich kerzengerade auf und machte ein fieses Gesicht. Bedächtig setzte er mir die Mündung zweier ausgestreckter Finger auf die Brust, Zeit oder Leben! Eine Strähne seines blonden Haars hing ihm über die Augen, unter dem stoppeligen Kinn warf die Haut Falten. Im Ernst, Kat, sagte er, lass uns irgendeine Ausrede finden, krank, Auto kaputt, keine Ahnung. Wir können ja nächstes Wochenende fahren oder übernächstes. Ich griff seine beiden Finger, Bastian, das geht nicht, das weißt du doch, wir haben diesen Besuch jetzt schon zweimal verschoben.
    Rufus war aufgewacht, sprang aufs Bett und maunzte. Siehst du, er will auch, dass wir aufstehen.
    Rufus strich mir um die Beine, während ich sein Futter richtete. Er war sechzehn oder siebzehn, so genau wusste das keiner, er war uns irgendwann zugelaufen, und schon damals war er nicht mehr jung gewesen – hatte jedenfalls der Tierarzt gesagt.
    Sebastian ging ins Bad und kurz darauf hörte ich das Wasser in der Wanne rauschen. Ich setzte mich an den Tisch und nahm die Zeitung. Es war schon ziemlich warm. Zehn Jahre Oderflut auf der ersten Seite. Ein dreispaltiges Foto von tapferen Männern und Frauen, im Hintergrund Sandsäcke. Wir waren damals nicht tapfer gewesen, wir fuhren hin zum Gaffen. Fuhren zum Unteren Odertal, parkten beim Stolper Turm, weil man von dort die beste Aussicht hatte. Unter uns lagen die Polderflächen geflutet, ein kleines Meer bis zu den Hängen jenseits der polnischen Grenze. Das Wasser stand hart an der Deichkrone. An mehreren Stellen sickerte es schon auf die Dorfseite. Man wusste nicht, ob der Deich halten würde.
    Es regnete und regnete.
    Ich blätterte weiter.
    Sebastian trank morgens nur Kaffee mit wenig Milch und viel Zucker. Drei Tassen oder vier. Gibst du mir das Feuilleton, bat er und setzte sich. Später würden wir tauschen. Willst du nicht was essen? Katja!, sagte er, ohne aufzuschauen.
    Wir hatten uns während des Studiums kennengelernt. Egal welches Wetter draußen war, trug Sebastian zu der Zeit immer seinen speckigen Ledermantel mit räudigen Pelzen um Kragen und Ärmel. Obwohl er mir schon in der ersten Woche aufgefallen war, gingen wir erst im zweiten Semester zusammen ins Kino. Wir setzten uns in die hinterste Reihe. Das Kino war ziemlich voll. Erst berührten sich nur unsere Oberarme. Ich spürte, wie Sebastian mich von der Seite ansah. Als er wieder auf die Leinwand blickte, sah ich ihn an. Der Widerschein des Filmlichts auf seinem Gesicht. Wie aus Versehen plötzlich Auge in Auge. Wir blieben hängen. Nach einer Ewigkeit hob ich die Hand. Die Hand machte, was sie wollte, sie glitt zu seinem Gesicht, und ehe sie es berühren konnte, kam es ihr schon entgegen. Die Fingerspitzen waren meine Lippen. Näher und näher. Haut und Haar und Wärme. Der Film war längst noch nicht zu Ende, da verließen wir das Kino, die halbe Nacht
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