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Ich kenne dich

Ich kenne dich

Titel: Ich kenne dich
Autoren: Jenn Ashworth
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Prolog
    Zwischen den Befragungen lassen sie uns oben in einem Klassenzimmer warten. Wir bleiben uns selbst überlassen, aber uns ist bewusst, dass nur ein paar Zimmer weiter über uns gesprochen wird. Lehrer, unsere Eltern, die Schulschwester, Sozialarbeiter. Und wir zwei können nichts anderes tun, als aus dem Fenster auf die Menschenmenge vor der Schule zu starren und zu warten.
    Wir beobachten, wie Fahrzeuge ankommen und Leute aussteigen. Wir stützen uns auf die Fensterbank und hinterlassen Handabdrücke im Staub. Emma lehnt sich mit ihren muskulösen Oberschenkeln gegen die Heizung. Ich zupfe welke Blätter von einer Grünlilie, und wir schauen beide aus dem Fenster und sagen nichts. Wir horchen. Die Scheiben dämpfen das Weinen und Singen, aber trotzdem können wir die Blumen sehen und die Atmosphäre spüren, die schrill ist und sonderbar und roh.
    Diese Leute, die wir nicht kennen – die Chloe nicht kennt –, kommen sogar in Bussen zur Schule. Jeder Einzelne bringt etwas mit. Wenn nicht Rosen oder Körbe mit Seidenblumen, dann Stofftiere und große handbemalte Karten. So viele Möglichkeiten, ihren Namen zu schreiben.
    Sie befragen uns einzeln, dann zusammen, dann wieder einzeln. Weil wir erst vierzehn sind, haben wir ein Anrecht auf Pausen. Wir sprechen nicht über die Fragen, die uns gestellt wurden. Wir gleichen nicht unsere Geschichten ab. Ich weiß nie, was Emma sagen wird, bis sie mit der Sprache herausrückt.
    »Jetzt stellen sie Kerzen auf«, bemerkt sie regungslos.
    Sie deutet mit einem Nicken auf eine kniende Gestalt auf der anderen Straßenseite gegenüber der Schule. Die Gestalt nimmt etwas aus einer Tragetasche und legt es auf dem Gehweg aus. Eine Reihe von Teelichtern blüht auf, so rasch wie Pilze, tropfend und flackernd in der überdachten Haltestelle, wo die Schulbusse abfahren. Emma stemmt sich vor und verlagert ihr gesamtes Gewicht auf die Hände. Ihr Atem hinterlässt Wolken auf der Scheibe. Ihr Schulpullover riecht nach alten Handtüchern.
    Ich starre auf die flackernden Teelichter und muss an das eine Mal denken, als Chloe und ich dort im Regen warteten an einem Tag, an dem wir eigentlich in der Schule hätten sein sollen.
    »Der Wind wird sie ausblasen«, sage ich. Emma nickt, und wir warten. Keine bricht das Schweigen, bis Shanks zurückkommt mit zwei anderen Polizisten.
    »Was denn jetzt noch?«, sage ich, aber nicht laut genug, dass Shanks es hört.
    Die Polizisten geben uns je eine Dose Cola und legen uns die Hände auf die Schultern. Sie lächeln viel, um uns zu signalisieren, dass uns kein Ärger droht und dass wir keine Angst zu haben brauchen, frei zu sprechen – alles zu sagen, was wir über Chloe und ihren Freund wissen. Manchmal filmen sie uns während des Gesprächs und lassen unsere Eltern hinterher Einwilligungserklärungen unterschreiben, in denen steht, dass sie nichts dagegen haben. Ich frage mich, ob dieses Mal die Kameras aus bleiben und was sie mit den Aufzeichnungen anfangen und ob wir wieder ins Fernsehen kommen. Manchmal fangen Journalisten uns nach der Schule ab. Die Polizei hat versprochen, besondere Vorkehrungen zu treffen.
    »Also schön«, sagt Shanks, und mir fällt auf, dass die Zigarettenschachtel in seiner Brusttasche fehlt und dass er heute ein richtiges Hemd anhat und keins aus Jeansstoff.
    »Die möchten sich noch mal fünf Minuten mit euch unterhalten, einzeln. Danach könnt ihr zurück in eure Klasse.« Er lächelt und versucht zu witzeln: »Leider bleibt euch Mathe heute nicht erspart, Mädels. Wer will als Erste?«
    Emma und ich blicken uns nicht an. Sie tritt vor. Ich sehe ihren Pferdeschwanz von einer Seite zur anderen gegen ihren Hals schwingen. Ich frage mich nicht, was sie ihnen erzählen wird. Shanks geleitet sie hinaus, und ich drehe mich wieder zum Fenster.
    Der nächste Bus ist da.

1
    Sie zeigen es heute Nachmittag. Ein Festakt zum ersten Spatenstich, und, wenn das Ding fertig ist, ein Festakt zur Einweihung, wette ich. Ich nehme eine Tüte Doritos und einen Weinkanister mit zur Couch. Vorhänge zuziehen, Fernbedienung suchen und es sich bequem machen. Der Bildschirm knistert vor statischer Aufladung, während er sich erwärmt, und ich frage mich, unbehaglich, was Emma heute Abend wohl mit sich anfängt.
    Anfang Januar setzte sich die Stadt mit der Schule und Chloes Eltern zusammen und gründete eine Gedenkstiftung. Es gab eine Anhörung mit anschließender Abstimmung im Empire Services Club. Der Andrang war so groß, dass das Clubhaus
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