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Beifang

Titel: Beifang
Autoren: Ulrich Ritzel
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Sommertage
    Tobruk war gefallen, und Kaufmann Hirrle hatte den Laden beflaggt, aber Weckgläser gab es keine. Marianne machte auf dem Absatz kehrt und ging wieder, sie hatte zwei große Kannen Stachel- und Johannisbeeren gepflückt, was wollte sie nun damit! Hirrle hatte ihr noch einen Blick zugeworfen, kommen Sie doch später noch mal, hieß das, wenn sonst keine Kunden mehr da sind, aber sie mochte diese Angebote nicht.
    Im Laden war es kühl gewesen, doch draußen auf der staubhellen Dorfstraße stand die Hitze wie eine Wand, und Marianne brach der Schweiß aus auf der Stirne, noch bevor sie auf ihr Rad gestiegen war. Am Lenker baumelten die Kannen voller Beeren, wie nutzlos doch ihre ganze Mühe gewesen war! Sie fuhr los, vornüber gebeugt und beide Hände am Lenker, den Schlaglöchern ausweichend, noch immer ärgerlich und enttäuscht.
    Plötzlich schrak sie hoch, Kindergekreisch brach über sie herein, eine Horde von Schulbuben schoss über die Straße, die Ranzen auf dem Rücken, ein strohblonder Junge wäre ihr fast ins Vorderrad gerannt, sie musste abbremsen und kam gerade noch rechtzeitig mit dem Fuß auf den Boden, sonst wäre sie gestürzt. Der Junge warf ihr einen erschrockenen Blick zu und rannte der Horde nach. Marianne atmete tief durch, dann stieg sie wieder auf und fuhr weiter.
    Die Kinder waren jetzt, johlend und schreiend, an der Straßenecke weiter vorne stehen geblieben, gegenüber dem Postamt, einige von ihnen sammelten Steine auf. Erst in diesem Augenblick entdeckte Marianne auf der anderen Straßenseite die grauhaarige Frau, die aus dem Postamt gekommen sein musste und die jetzt mit hastigen Schritten der Horde zu entkommen suchte, die Hände abwehrend erhoben.

    Wieder sah Marianne den blonden Jungen, der gerade eben einen Schritt auf die Straße hinausgetreten war und mit der Hand ausholte. Marianne schrie noch ein: »Nicht!« oder wollte es schreien, als der Junge mit einer abgezirkelten Bewegung auch schon einen Stein eigentlich nicht warf, sondern fliegen ließ, der Stein traf die alte Frau am Kopf, Staub oder Erdreich lösten sich beim Aufprall und stiegen um den Kopf der Alten auf wie eine lustige kleine Wolke. Einen kurzen Moment verharrte die Getroffene regungslos, dann barg sie das Gesicht in den Händen und krümmte sich, bis sie in sich zusammensank.
    Marianne ließ das Fahrrad samt den Kannen auf den Boden fallen und lief zu der Getroffenen, die nun mit angezogenen Knien auf dem Gehsteig hockte. Blut lief ihr über die Hand, mit der sie das Auge schützte. »Ganz ruhig«, sagte Marianne, kniete sich neben sie und überlegte, womit sie die Blutung stillen könnte. »Ich helfe Ihnen, es ist sicher nur eine Platzwunde.«
    Beim Niederknien war ihr der Rock hochgerutscht, und der Unterrock lugte hervor. Sie warf einen Blick auf die andere Straßenseite, die Horde hatte zu kreischen aufgehört, plötzlich liefen die ersten Kinder weg. Nur der Steinewerfer starrte noch herüber, dann rannte auch er davon.
    Marianne schob den Rock höher und packte mit beiden Händen den Unterrock - zerschlissen war er ohnehin - und riss eine aufgegangene Naht vollends auseinander, bis sie einen Fetzen weißes Baumwollgewebe in der Hand hielt. »Gleich«, sagte sie beruhigend, zog behutsam die Hand der Frau von der Platzwunde und legte den zusammengefalteten Lappen auf.
    »Was ist nur geschehen?«, rief in diesem Augenblick eine klagende Stimme. Schritte näherten sich, Marianne blickte auf, ein Mann in einem abgewetzten Anzug hastete heran, am Sakko trug er den Judenstern, auch die Frau, die noch immer auf dem Boden hockte, trug den Stern, warum hatte Marianne nicht darauf geachtet? Dabei hatten die Kinder doch die ganze Zeit »Judensau« geschrien, jetzt, wo sie daran dachte, hatte sie es wieder im Ohr.
    »Ein Steinwurf«, sagte sie und stand so rasch auf, dass ihr für einen Moment schwindlig wurde. Der Mann versuchte, die Frau
vom Boden hochzuziehen; dabei warf er Marianne einen so hilflosen Blick zu, dass sie sich bückte und der anderen aufhalf.
    »Danke«, sagte die alte Frau und stand, zunächst schwankend. Mit der einen Hand hielt sie den Stofflappen an ihre Schläfe. »Sie sind sehr freundlich...« Durch den Lappen drang ein kreisrunder Blutfleck.
    Abwehrend schüttelte Marianne den Kopf. »Können Sie sie zu ihrer Wohnung bringen?«, fragte sie den Mann. Dann fiel ihr ein, dass die beiden in dem Altersheim oben an der Wippinger Steige untergebracht sein mussten, das war noch ein gutes Stück,
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