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Ein Kreuz in Sibirien

Ein Kreuz in Sibirien

Titel: Ein Kreuz in Sibirien
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Lager einrückten. Es waren die Sägewerk-Kolonnen, die keinen weiten Weg hatten und deshalb in offenen Lastwagen transportiert wurden. Zu jedem Wagen gehörten zwei Wachsoldaten mit scharfen Hunden. Das war ein besserer und sichererer Schutz vor Fluchtversuchen als alle Maschinengewehre und Postenketten.
    Vor dem großen Lagertor hielten die Lastwagen, die Sträflinge sprangen auf die Erde, der Transportführer übergab dem Wachhabenden die Transportliste, die Ankommenden wurden gezählt, die Zahl stimmte, und der Eingang zum Lager wurde freigegeben. Hier, innerhalb der hohen Holzpalisaden und des äußeren Stacheldrahtzauns, waren sie dann unter sich, die lebenden Toten, die toten Seelen. Sie wurden von ihren Barackenältesten empfangen, von den Kapos, den Privilegierten der Sträflinge; zum größten Teil waren das verurteilte Kriminelle. Ein Politischer stieg selten in eine Vertrauensstelle im Lager auf. Ein Raubmord ist immerhin menschlich – wer jedoch Kritik am Regime übt, hat jedes Menschenrecht verwirkt.
    Larissa Dawidowna faltete die Hände und drückte sie gegen ihr Kinn. Man muß beten, dachte sie. Für Pjotr beten, daß seine Seele endlich Ruhe findet dort oben, weit hinter allen Himmeln. Keiner sieht es ja, ganz allein ist man ja mit sich, und es werden noch mehrere beten heute abend, wenn sie von Pjotrs Tod erfahren. Werden in einer Ecke ihrer Baracke hocken oder die Hände unter der Decke im Bett falten, werden ihr Gesicht zur Wand drehen und die Schultern hochziehen, damit keiner sieht, wie sich ihre Lippen bewegen. Ein Kreuz werden sie schlagen, nur in der Andeutung, mit den Fingerspitzen, während ihre Blicke herumirren: Sieht es jemand? Kann man erkennen, was wir jetzt tun? Haben wir nicht gelernt, daß gedachte Gebete Gott ebenso erreichen wie laut hinausgeschriene?
    Gott mit dir, Pjotr. Auf Wiedersehen in der Seligkeit, Brüderchen. Aller Segen über dich. Auch ohne dich bleiben wir zusammen. Ein Schwur ist das, Väterchen Pjotr!
    Auf einer Schubkarre transportierte man Pjotr zu dem Feld, wo die Toten des Lagers begraben wurden. Es gab dort keinen Stein, keinen Stecken mit einem Namensschild, nicht einmal einen Grabhügel. Die Erde wurde wieder festgestampft, und wenn das Feld voll belegt war, forstete man es auf, setzte Stecklinge von Zedern und Lärchen in den Boden und überließ die Weihe des Ortes der Taiga und ihrer ungebändigten Kraft. Es war schon schwer genug, die Gräber überhaupt auszuheben, denn in achtzig Zentimetern Tiefe – das war das äußerste – begann der Dauerfrostboden. Hier kam man nur weiter, wenn man mit Dynamit sprengte. Der logische Vorschlag von Rassul Sulejmanowitsch, die Toten zu verbrennen, konnte nicht verwirklicht werden, weil es an den dazu brauchbaren Öfen mangelte.
    Larissa stand noch immer am Fenster, als sie die Karre mit dem in eine Decke eingerollten Pjotr über den großen Platz rumpeln sah. Zwei Sträflinge zogen das Gefährt, begleitet von einem Soldaten mit dem obligaten Hund. Kommandant Rassim, ein Hundenarr, liebte vor allem Boxer und Deutsche Schäferhunde über alles. Wurde ein Hund krank oder verletzte sich, stellte er große Untersuchungen an und benahm sich, als sei sein linkes Auge ausgelaufen; meldeten die Wachmannschaften hingegen, daß in der abgelaufenen Schicht vier Sträflinge an Entkräftung umgefallen waren, grunzte er nur und sagte mißmutig: »Wir müssen aus Perm Ersatz anfordern. Verdammt und bei allen Teufeln – ich brauche gesunde Leute für diese verfluchten Gasröhren!«
    Leb wohl in einem anderen Reich, Väterchen Pjotr. Wir denken immer an dich.
    Larissa wandte sich ab, blickte auf die Uhr, zog ihren Arztkittel an und bereitete sich auf die Abendvisite vor. Jeder im Lager, selbst Dshuban, nannte diese Visite einen kompletten Blödsinn. »Wir sind hier nicht in der Universitätsklinik von Moskau!« bellte Rassim ein paarmal, wenn er Larissa auf dem Weg zu ihren Kranken begegnete. »Blasen Sie ihnen Zucker in den Darm?«
    »Ich wünschte, man gäbe mir genug Zuckerlösung – das würde vielen helfen!« hatte sie mit Stolz geantwortet. Rassim schluckte das in ohnmächtiger Wut, aber nur, weil in seiner Vorstellung dieser verdammte nebelhafte Onkel aus Moskau herumspukte. Im großen Gemeinschaftsraum der Inneren Abteilung kam Larissa ein Sträfling mit lockigen, schlohweißen Haaren entgegen. Er trug in jeder Hand einen Plastikeimer mit gesammeltem Urin, trat sofort an die Wand, als er die Tschakowskaja sah, und nahm
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