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Ein Kreuz in Sibirien

Ein Kreuz in Sibirien

Titel: Ein Kreuz in Sibirien
Autoren: Heinz G. Konsalik
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kurz: »Arbeitstauglich! Ladebrigade!«
    Das war eine große Auszeichnung. Weg von Asbest und Glaswatte, weg von den Rohren, weg von der 4.465 Kilometer langen Rohrstraße durch Wälder und Sümpfe, Tundra und Dauerfrostboden, unter Flüssen hindurch und über Berge hinweg – Pjotr durfte nun Material abladen und Lastwagen leeren. Nach drei Monaten fuhr er sogar einen kleinen Raupenschlepper, mit dem er Holzstämme, Bretterstapel und Stahlplatten transportierte. Bis dann dieser Mittwoch kam, kalt und noch nachtdunkel um diese Zeit. Mit einem Güterzug waren Eisenbahnschwellen gekommen, weil man zwischen drei Außenlagern eine Bahn legen wollte, um die Sträflinge schneller an die immer weiter vorrückenden Arbeitsplätze zu bringen. Schöne, neue, imprägnierte Schwellen aus den Sägewerken von Tawda, wo achthundert Frauen die Bäume fällten und das Holz bearbeiteten. Pjotr begann mit dem Verladen, aber plötzlich kam eine der Schwellen ins Rutschen, zu spät sah er es, noch einen Sprung zur Seite machte er, aber er stolperte über den Schotter, sein Kopf nickte vor und genau in die Fallrichtung der Schwelle.
    Es war kein harter Aufprall, man hörte fast gar nichts, und die mit Pjotr abladenden Kameraden starrten ihn verwundert an, als die Schwelle rechts und Pjotr links auf die Erde fielen und liegenblieben. Eine ganze Zeit dauerte es, bis man begriff, daß Pjotr tot war und der Vorarbeiter Semjon »Aus dem Weg!« brüllte, weil Pjotrs Körper das Abladen behinderte.
    Nun lag er da zwischen der Nietenkiste und den weggeworfenen Holzbrettern, erstarrt im Frost. Und die Tränen, die ihm beim plötzlichen Sterben aus den Augen getreten waren, verwandelten sich zu glitzernden Kristallen und warfen das Licht der Scheinwerfer, mit denen die Arbeitsstellen beleuchtet wurden, in seine blauen Augen zurück. Es sah aus, als wenn sie noch lebten. Dann trat die Sonne durch den Morgendunst, ein schöner Tag wurde es noch. Das weite Land strahlte im goldenen Glanz, die Föhren und sibirischen Zedern, die Lärchen und Birken, die Farne und das Unterholz, alles versank im Zauber der Sonne. Selbst die Trasse der Rohrleitung, die unendliche Schlange an Material und Menschen, Fahrzeugen und Kränen verlor ihren beklemmenden Gigantismus. Welch ein herrlicher, klarer, sonnengoldener, kalter, windstiller Tag! Fast unmöglich, daß Auge und Herz soviel Schönheit begreifen.
    Auch in Pjotrs Augen schien die Sonne, ließ die Tränenkristalle schimmern und belebte das starre Gesicht. So wäre es bis zur Dunkelheit gegangen, wenn nicht ein Ingenieur vorbeigekommen wäre und einen Blick auf Pjotr geworfen hätte. Er stutzte, blieb stehen, trat näher und beugte sich über den Körper.
    »Wer ist das?« brüllte er dann, die Hände in die Hüften gestemmt. »Der Verantwortliche für diese Sauerei zu mir!«
    Semjon, der Vorarbeiter, fluchte in seinen Bart, hielt ein Nasenloch zu, rotzte auf den gefrorenen Boden und kam näher.
    »Er ist tot!« sagte er mit rauher Stimme.
    »Das sehe ich!« bellte der Ingenieur. Es war ein noch junges Kerlchen, frisch von der Akademie in Nowosibirsk gekommen. Er hatte einen Streckenabschnitt übernommen und kannte noch nicht die Gepflogenheiten, mit denen man hier arbeitete. Für ihn war ein toter Mensch eben ein toter Mensch, dem eine gewisse Ehre zusteht. Daß der Tote ein Sträfling war – zudem noch ein politischer –, kam ihm nicht in den Sinn. »Warum liegt er hier?«
    »Warum nicht?« fragte Semjon verblüfft dagegen.
    »Ist das eine Antwort?« schrie das Jüngelchen von Ingenieur.
    »Was wollen Sie hören, Genosse Ingenieur?«
    »Sie können doch einen Toten nicht einfach herumliegen lassen!«
    »Er ist außerhalb des Arbeitsbereiches und stört nicht. Was will man mehr?«
    »Sie können doch nicht einfach einen Toten …« Der Ingenieur schluckte mehrmals. Er warf noch einen Blick auf Pjotrs von der Sonne glänzende blaue Augen und hob wie schaudernd die Schultern. In Semjons Nase juckte es, er kniff das andere Nasenloch zu und rotzte zur Seite.
    »Hier gibt es mindestens hundert Möglichkeiten, den Toten würdevoll unter Dach zu legen«, sagte der junge Ingenieur stockend. Wie mit Rost belegt war seine Stimme.
    »Pjotr wird mit dem Materialwagen zurück ins Lager gebracht. Ob unter Dach oder in der Sonne – ihm schadet's nicht mehr.«
    »Name!« sagte der Ingenieur steif.
    »Pjotr. Lagernummer römisch Eins, Querstrich, Vierhundertneunundsechzig …«
    »Ihr Name!« brüllte der junge
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