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Ein Kreuz in Sibirien

Ein Kreuz in Sibirien

Titel: Ein Kreuz in Sibirien
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Genosse.
    »Semjon Victorowitsch Plachin, Vorarbeiter Transportbrigade V, Lager JaZ 451/1.«
    »Sie werden zur Meldung gebracht!«
    »Das hat man nun davon«, sagte Semjon böse und raufte sich am Bart. Es war ein schwarzer wolliger Bart, auf den er stolz war und mit dem er bei den Weibern grandiose Erfolge erzielte. Da war noch keine gewesen, die nicht aufgewinselt hatte, wenn er mit diesem Bart ihre Brüste bestrich oder sie zwischen den Schenkeln kitzelte. »Da legt man ihn pietätvoll hin und wird angeschissen wie ein Lokusbalken. Genosse Ingenieur – das war ein Sträfling!«
    »Na und? Auch ein Sträfling ist ein Mensch.«
    »Darüber sollten Sie sich mit Rassul Sulejmanowitsch, dem Kommandanten, unterhalten«, sagte Semjon und grinste breit. Immerhin bückte er sich, nahm ein zufällig herumliegendes großes Stück Pappe und legte es über Pjotrs Gesicht. Das sah noch merkwürdiger aus, denn auf die Pappe hatte man gedruckt: BOHNEN MIT SPECK. Der Deckel eines Konservenkartons. »Genosse Ingenieur, Sie sind noch sehr jung. Ihre erste Stellung ist das hier. Viel Ehre, in Ihrem Alter. Wollen Sie Erster Ingenieur werden? Dann sehen Sie nur die Pipeline, nicht die Menschen. In zwei Jahren müssen hier Millionen Kubikmeter Gas fließen, Tag und Nacht – alles andere drumherum ist unwichtig. Am unwichtigsten ist so ein Stück Abfall wie Pjotr!«
    Er drehte sich um, ließ den jungen Ingenieur stehen und stapfte zurück zu seiner Arbeitsbrigade. Dort steckte er sich eine Pfeife an, setzte sich auf einen Stapel abgeladener Schwellen und beobachtete seine Leute.
    Eine Stunde später holte man Pjotrs Leiche ab. Mit einem der Küchenwagen, die früher zurück zum Lager fuhren. Da der Tote steif gefroren war, bedeutete er kein Problem: Wie ein Brett legte man ihn quer über die leeren, offenen blanken Stahlkessel, mit denen man die Suppe gebracht hatte, und fuhr davon. Im Lager würde Nina Pawlowna Leonowa, die Lagerköchin, Stein und Bein fluchen und die Fahrer allesamt Bogenpisser nennen, aber der Genosse Ingenieur hatte es befohlen, und gegen einen Befehl kann man nichts machen. Und was heißt hier Hygiene? Ein Toter kann nicht mehr unter sich machen – schon gar nicht, wenn er steif gefroren ist. Aber das kennt man ja: fluchen und schimpfen muß sie immer, die Nina Pawlowna.
    Nachdenklich blickte der junge Ingenieur dem Küchenwagen nach. Pjotrs Anblick ließ ihn nicht mehr los. Es war seine erste unmittelbare Begegnung mit einem Toten. Die Toten im Fernsehen, etwa in Afghanistan oder sonstwo auf der Welt, das waren Bilder, die man abschalten konnte. Hier aber hatte er wirklich vor einem Toten gestanden, hatte sich über ihn gebeugt, hatte in diese starren blauen Augen geblickt und war zutiefst betroffen gewesen. »Ihr seid die Hoffnung und die Zukunft der Sowjetunion!« hatte man ihm und seinen Kameraden auf der Akademie gesagt. »Ihr werdet Sibirien erobern. Ihr werdet euer Vaterland zum mächtigsten und reichsten Staat der Erde machen. Ihr seid unser Stolz.«
    Da war ihnen das Herz aufgegangen, und sie hatten sich freiwillig zum größten Projekt des Vaterlandes gemeldet: zum Pipelinebau durch Sibirien. Und dann kamen sie an in Tjumen, Tobolsk, Tawda, Irbit und Kungur, in Surgut und Ust-Ischim, in Tscheljabinsk und Urengoj, standen an dem Jahrhundertwerk, der unendlichen Röhrenschlange durch Eis, Tundra, Taiga und Steppe und sahen zum erstenmal in ihrem Leben, was Menschen aus Menschen machen können: die Pipelinesklaven. Sie sahen zum erstenmal die über das Land verstreuten Lager. Sie lebten zum erstenmal Seite an Seite mit Kreaturen, die wie Menschen aussahen, wie Menschen sprachen, wie Menschen sich bewegten, wie Menschen dachten – und die doch ein Nichts waren, nur nackte Arbeitskraft für zehn Stunden Schufterei, entblößt von allem Recht, sogar dem Recht auf Leben.
    »Da sie sonst zu nichts nütze sind, leisten sie wenigstens hier ihren Beitrag zum Wohle des Volkes«, hatte man kühl in der Zentrale Tjumen gesagt, als einige der jungen Ingenieure dumme Fragen stellten. »Jeder an seinem nutzbringenden Platz, das ist die Devise der Zukunft!«
    Man hütete sich daraufhin, weitere Fragen zu stellen. Die russische Kunst, das Leben hinzunehmen, wie es nun einmal ist, half auch hier über moralische Klippen hinweg. Man gewöhnte sich daran, neben den Sträflingen zu leben, ohne den Verfall ihrer Menschlichkeit wahrzunehmen. Sie gehörten zum Arbeitsmaterial wie Röhren, Schrauben, Nieten, Hölzer,
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