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Ein Kreuz in Sibirien

Ein Kreuz in Sibirien

Titel: Ein Kreuz in Sibirien
Autoren: Heinz G. Konsalik
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sich.
    »Die Theater-Idioten!« sagte er grob. »Wird ›Hänsel und Gretel‹ umbesetzt und spielt man jetzt ›Aus einem Totenhaus‹? Informiert habe ich mich: Das sozialistische Theater hat immer aktuell zu sein! Wirklichkeitsnah!«
    » Gribows Vorräte reichen knapp sechs Tage«, sagte Abukow .
    Rassim zog das eckige Kinn an und scharrte mit den Stiefeln. »Spucken Sie mich deswegen nicht an, Victor Juwanowitsch . Von der Zentrale habe ich einen Kommentar bekommen: Schuld sind wieder die Amerikaner. Haben die Getreidelieferung gestoppt! Wieso die Amerikaner, frage ich. Nach dem Fünfjahresplan ersticken wir an eigenem Getreide. Ja, aber da ist die böse Natur. Die dritte Mißernte hintereinander, kein Plan stimmt mehr, die Rechnungen gehen nicht auf. Und da macht der Amerikaner den Hahn zu. Und nun die Logik: Wo kein Futtergetreide ist, wird's weniger Vieh geben. Weniger Vieh bedeutet: Engpässe auf der ganzen Linie. Auch die Saat reichte nicht. Also gibt es weniger von allem, wovon man satt wird. Aber 255 Millionen Sowjetmenschen sind zu ernähren, die großen Städte müssen versorgt werden, die Arbeiterschaft darf nicht hungern – was bedeuten da 1.200 Aussätzige im tiefen Sibirien?« Rassim sprang auf und schlug die Fäuste aneinander. »Wer etwas dagegen zu sagen hat, dem schlage ich die Hirnschale ein!«
    »Der Genosse Abukow hat begrenzte Vorräte«, erklärte Wolozkow kurz.
    Rassim zuckte zusammen und starrte Abukow an. » Was hat er? Vorräte?«
    »Sie hören es«, sagte Abukow steif. Auf seiner Stirn glitzerte plötzlich Schweiß. Kalter Schweiß.
    »Woher?« bellte Rassim .
    »Gestohlen.«
    »Wie lange reicht es?«
    »Wenn wir ganz sparsam sind … in Gruppen … neun Tage … zusammen mit den Kartoffeln und dem Kohl, den Gribow noch hat.«
    »Von meinem ersten Blick auf Sie wußte ich es!« sagte Rassim , und plötzlich lächelte er Abukow an. »Ein Halunke sind Sie, Victor Juwanowitsch . Wert, daß man Sie aufhängt. Und nun stehen Sie da und kommen sich wie ein Heiliger vor. Auf Ihre schönen blauen Augen möchte ich Sie schlagen! Zum Teufel, bringen Sie das Fressen her – aber …« Er hob die rechte Hand. »… in ein Isolierlager schicke ich Sie, wenn Sie später jemals diese Minute hier erwähnen!«
    Ende Januar brachte ein Lastwagen aus Tjumen die angekündigten alten Musikinstrumente ins Lager. Trompeten, Posaunen, Flöten, Klarinetten, Schalmeien, Trommeln, eine Pauke, eine Baßtuba, Waldhörner, ein Tenorhorn, ein Fagott, sogar eine Zither und ein Saxophon. Die meisten verbeult und verbogen, ausgemusterte Militärinstrumente – aber wie ein Wunder mutete es an, als sie in Wolozkows Büro auf dem Boden lagen und im Licht der Lampen schimmerten.
    Rassim bog sich vor Lachen, nahm ein Waldhorn hoch, blies hinein, ließ einen schauerlichen Ton erschallen und sagte dann: »Das hätten wir nun! Jetzt, meine lieben Idioten, versucht mal, daraus einen Brei zu kochen – oder könnt ihr damit den Hunger aus den Mägen blasen?«
    Zur gleichen Zeit saß Abukow an den Betten der Kranken und Sterbenden und betete mit ihnen.
    Nichts als Worte hatte Abukow noch zu bieten. Mehr gab es nicht. »Kein Körnchen Grütze kann ich dir mehr geben, nackt bin ich wie du, aber ich kann dir versprechen, daß Gott uns nicht vergessen hat«, tröstete er. »Auch wenn es so aussieht, daß wir allein sind in allem Elend. ER ist bei uns und sagt zu uns: Holt eure letzte Stärke aus der Seele, glaubt an mich. Es gibt ein Morgen – wenn nicht auf Erden, dann bei mir im Himmel …«
    Am dritten Februar rief Smerdow im Lager an. »Los geht's, Victor Juwanowitsch ! Morgen kommt ein Güterzug aus Swerdlowsk mit Lebensmitteln für die Lager. Bataschew springt schon herum wie ein junges Böcklein. Fahr sofort los … ein ganzer Waggon mit Hühnern soll darunter sein!«
    Abukow legte auf, ließ den Kopf auf Wolozkows Schulter sinken, der neben ihm stand, und weinte. Wolozkow legte den Arm um ihn und drückte ihn stumm an sich.
    Aber Abukow konnte nicht fahren. Von Surgut kam auch keine Kolonne zum Lager durch, denn ein Schneesturm tobte fünf Tage und Nächte. Abukow stand am Fenster, starrte auf das weiße, wirbelnde Chaos und hatte die Hände gefaltet.
    »Warum, o Herr?« fragte er leise. »Warum? Was haben wir Dir getan? Wo bist Du, Herr im Himmel?«
    Wie schwer ist es, ein Priester in Sibirien zu sein …
    Am sonnigen, warmen Ostersonntag trafen sich auf dem Petersplatz in Rom nach dem päpstlichen Segen ›Urbi et orbi‹
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