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Ein Kreuz in Sibirien

Ein Kreuz in Sibirien

Titel: Ein Kreuz in Sibirien
Autoren: Heinz G. Konsalik
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    Er wurde von einer Eisenbahnschwelle erschlagen.
    An einem Mittwoch, morgens gegen sieben Uhr zweiundzwanzig. Es war kein besonderes Ereignis, und man sprach auch nur drei Worte darüber: »Pjotr ist tot.«
    Mehr nicht. Warum auch. Fast täglich gab es Verletzte und Tote. Man hatte gelernt, damit zu leben, sah kurz zur Seite, holte einmal rief Atem und arbeitete weiter. Das Tagessoll war wichtiger als zeitverschlingende Trauer, war mächtiger als ein paar stille Gedanken, die Pjotr wert gewesen wäre.
    Nun lag er da zwischen Holzbrettern und einem Stahlkasten voller Nieten, lag auf dem Rücken, als schlafe er noch. Nur ein wenig Blut war ihm aus der Nase gelaufen. »Aus dem Weg!« hatte Semjon, der Vorarbeiter, befohlen, hatte sich dabei über Pjotr gebeugt und sachkundig festgestellt, daß die Eisenbahnschwelle die Hirnschale zertrümmert hatte. »Bringt ihn aus der Arbeitslinie!« Zwei Mann packten den Toten an den Füßen und unter den Schultern, schleiften den durchhängenden Körper zur Seite und legten ihn ab. Dort blieb er nun liegen bis Arbeitsende, bis die Kolonnen zurück ins Lager rückten. Er lag einfach da mit seinen starren, offenen blauen Augen und vereiste bei den 40 Grad Frost, die man heute gemessen hatte. Am Abend würde man ihn aufheben und in einen Lastwagen schieben – neben zerbrochene Schaufeln und Hacken, die man zum Magazin fuhr, um sie zu reparieren. An Pjotr war nichts mehr zu reparieren. Er war immer ein ziemlich zarter Mensch gewesen, wenn man diesen Ausdruck für einen Mann gebrauchen darf. Ein mittelgroßes, schmales Wesen mit weiten blauen Augen, einer sanften Stimme und einer gebildeten Sprache. Als er vor zwei Jahren mit einem Transport aus Tjumen im Lager JaZ 451/1 erschien, in viel zu weiten Kleidern, bleich und mit Händen, die besser zu einem Friseur als zu einem Schwerarbeiter am Gasrohrstrang paßten, sagte selbst die Lagerärztin Larissa Dawidowna verwundert:
    »Wen hat man uns denn da geschickt? Hier sollen Rohre verlegt, aber keine Stickereien angefertigt werden! Will die Hauptverwaltung in Tjumen uns jetzt mit Künstlern beglücken?«
    Für zehn Minuten wurde Pjotr ein interessanter Fall. Man las seine Laufkarte durch und erfuhr voll Staunen, daß der schmächtige Bursche ein ganz gefährlicher Mensch war. Ein Dichter! Na so was! Ist klug wie ein Lexikon, drechselt Verse, jongliert mit den Worten – aber statt den Mond zu besingen oder die Blumen, den Busen eines Mädchens oder die Unendlichkeit des Himmels, wie es sich für einen Lyriker gehört, schreibt er revolutionäre Gedichte, trägt zersetzende Thesen auf der Straße vor und wundert sich dann, wenn man ihn für zehn Jahre wegschickt nach Sibirien. Zur produktiven Umerziehung, wie es in der Überweisung hieß. »Einen Dichter haben wir schon immer gebraucht«, hatte Rassul Sulejmanowitsch Rassim, der Lagerkommandant, höhnisch gesagt. »Endlich ein Fachmann! Er kommt in die Brigade der Rohrabdichter.« Dann hatte er Pjotr gezwungen, ganz schnell ein kurzes Gedicht mit Rohr aufzusagen, und Pjotr hatte mit seiner sanften Stimme erwidert:
    »Stand am Rohr
    und fror …«
    Rassim hatte ihm daraufhin einen mächtigen Tritt in den Hintern gegeben. Wie von einem Katapult abgeschossen, sauste Pjotr aus dem Zimmer, denn Rassim war ein großer, stämmiger Mensch mit Beinen wie Säulen und Muskeln wie Schiffstaue, und während sich Pjotr mühsam wieder aufgerichtet hatte, begleitete ihn das dröhnende Lachen des Lagerkommandanten.
    So war vor zwei Jahren Pjotr in das Straflager JaZ 451/1 gekommen, arbeitete in der Kolonne, die die riesigen Gasrohre mit Asbest und Glaswatte verkleidete, tat unscheinbar seine Pflicht, überstand den Winter und den nicht minder grausamen Sommer in der Taiga, wurde nie krank, brach nie unter der Last des Solls zusammen und behielt seine gütigen blauen Augen und seine sanfte Stimme. Fast ein Wunder war er. Larissa Dawidowna Tschakowskaja, die Ärztin, ließ ihn im Laufe dieser zwei Jahre neunmal zu sich kommen und unterhielt sich mit ihm allein. Unter vier Augen, wie es so heißt. Pjotr trug Gedichte vor und nahm den Rat der Tschakowskaja an, einen quälenden Husten vorzutäuschen. Aber erst nach der neunten Aussprache war er dazu bereit.
    Nachdem er sich am Rohrstrang drei Tage lang würgend gequält, sich gekrümmt und dem brüllenden Vorarbeiter ins Gesicht gehustet hatte, überwies man ihn endlich ins Lagerhospital. Dort untersuchte ihn Larissa Dawidowna, klopfte ihn ab und entschied dann
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