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Die Zauberlehrlinge

Die Zauberlehrlinge

Titel: Die Zauberlehrlinge
Autoren: Robert Goddard
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1. Kapitel
    Wenn er jetzt ginge oder selbst erst in fünf Minuten, bliebe alles in bester Ordnung. Nur, er würde nicht gehen. Er wusste das. Und sie auch.
    »Noch einen?«
    »Besser nicht. Sonst kann ich nicht mehr gerade streichen.«
    »Dann versuchen Sie's erst gar nicht.«
    »Was ist mit Claude? Er wird nicht gerade erfreut sein, wenn der Anstrich bis zum Wochenende nicht fertig ist.«
    »Ich werde ihm sagen, es hätte geregnet.«
    »Wird er Ihnen glauben?«
    »Wen interessiert das? Also, was ist jetzt mit dem Drink?«
    »Sie sollten mich nicht in Versuchung führen.«
    »Wer sagt denn, dass ich das will?« Sie schenkte ein, und Gin floss in sein Glas.
    »Ob Sie's wollen oder nicht«, sagte er, hob das Glas an die Lippen und trank genussvoll etwas von der starken Mixtur, »Sie tun es jedenfalls.«
    »Wirklich?«
    »O ja. Sehr. Und ich war noch nie gut darin, irgendeiner Versuchung zu widerstehen.«
    »Nein?«
    »Nein!«
    »Das ist komisch.«
    »Warum?«
    »Ich nämlich auch nicht, Harry.«
    Vierunddreißig Jahre, drei Monate und einige Tage später gab es nichts, was Harry Barnett hätte in Versuchung führen können, als er in südlicher Richtung durch die Scrubs Lane trottete. Die steife herbstliche Brise war mit den Abgasen des Straßenverkehrs und einem Stickstoffcocktail aus den Industrieschloten angereichert. Noch mehr davon wäre kaum auszuhalten gewesen. Während er von der Eisenbahnbrücke über die farblose Fläche des Friedhofs von Kensal Green starrte, dessen Gräberreihen eine noch kältere Grauschattierung aufwiesen als der unfreundliche Londoner Himmel, stellte Harry fest, dass so ungefähr das letzte, was er im Augenblick brauchte, eine Extradosis von irgendeinem der trostlosen Bestandteile seines Lebens war.
    Einer der trostlosesten war sein Teilzeitjob in der Servicestation Mitre Bridge, die auf halber Höhe der Scrubs Lane in Fahrtrichtung der A40-Straßenüberführung lag. Er war schon zu spät dran für seine fünfstündige Schicht aus Geldzählen und Kartenentwerten, aber sein rechter Fußknöchel tat nach dem gestrigen Straucheln auf dem nächtlichen Heimweg von Stonemason's Arm so weh, dass an eine schnellere Gangart nicht zu denken war. Außerdem war Shafiq ein verständnisvoller Mensch. Für einen Moslem war er wirklich erstaunlich tolerant gegenüber den Ausrutschern, die einem Mann passieren konnten, wenn er ein paar Gläser zu viel intus hatte. Natürlich würde er meckern, das war nicht anders zu erwarten. In gewissem Sinne war das die Art, wie sie beide bei Verstand blieben.
    Aber seltsam, als Harry ein paar Minuten später den Vorplatz von Mitre Bridge betrat und nicht allzu schnell durch die von Benzin in allen Regenbogenfarben schillernden Pfützen zum Kassen- und Verkaufsraum der Tankstelle tappte, blickte Shafiq mit einem Ausdruck verwirrten Mitgefühls von der Theke auf. Die Schimpftirade, auf die Harry sich gefasst gemacht hatte, blieb aus. Daher war er schon besorgt, bevor er die Tür ganz aufgestoßen hatte. Wie sich herausstellte, allerdings nicht halb so besorgt, wie er eigentlich hätte sein sollen.
    »Harry, mein Freund«, sagte Shafiq, »gut, dich zu sehen!«
    »Du brauchst nicht sarkastisch zu werden. Ich bin gekommen, so schnell ich...«
    »Ich bin nicht sarkastisch, Harry. Wie kommst du bloß darauf?«
    »Dazu gehört nicht viel. Aber lass nur, jetzt bin ich ja da. Du kannst nach Hause abhauen.«
    »Unter diesen Umständen? Kommt ja gar nicht in Frage.«
    Harry, der gerade seinen Anorak ausziehen wollte, hielt mitten in der Bewegung inne. »Wovon redest du eigentlich?«
    »Ich bin sicher, Mr. Crowther hätte nichts dagegen, wenn du direkt ins Krankenhaus fahren würdest.«
    Mit einem Schulterzucken streifte Harry seinen Anorak wieder über, trat an die Theke, beugte sich darüber und starrte in Shafiqs rundliches, besorgtes Gesicht. »Hast du Frostschutzmittel geschnüffelt, Shafiq? Wovon zum Teufel redest du?«
    »Tut mir leid, Harry. Ich hab's nicht richtig erklärt. Aber es war eine Überraschung, ja, direkt ein Schock. Ich hatte ja keine Ahnung, dass du einen Sohn hast.«
    Jetzt war Harry mit der Besorgnis an der Reihe. »Einen Sohn?«
    »Ja, sie haben vor ungefähr zwanzig Minuten angerufen. Dein Sohn ist im National Neurological Hospital. Ich habe die Zimmernummer notiert.«
    Vogelzwitschern und der Geruch frischer Farbe drangen durch das mit einer Tüllgardine verhängte Fenster, während Harry wieder zu Atem kam. Aus dem Augenwinkel konnte er die von der
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