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Kurz bevor dem Morgen graut

Kurz bevor dem Morgen graut

Titel: Kurz bevor dem Morgen graut
Autoren: Andreas Kimmelmann
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LENAS NACHTGESANG
    Sie hieß Lena und war achtzehn, hatte sie gesagt. In Wahrheit höchstens sechzehn, so viel stand fest. Wenn nicht jünger. Leo konnte sie nichts vormachen. Er hatte schon so viele jugendliche Tramperinnen in seinem alten Jeep mitgenommen, dass er den Unterschied zwischen einer aufrichtigen Altersangabe und einer gelogenen kannte. Außerdem war sie von zu Hause weggelaufen, da war Leo sich sicher. Um diese Zeit fing man immer die meisten Ausreißerinnen. Zeugniszeit. Jagdzeit.
    Es war Leo recht, dass sie noch keine 18 war. Schließlich mochte Kerner die jüngeren Mädchen lieber. Dieses hübsche Ding würde Leo eine ordentliche Prämie einbringen. Der Sommerurlaub war gerettet.
    Das Einzige, was Leo Sorgen bereitete, war der Zustand des Mädchens. Sie schien irgendwie krank zu sein. Er hatte schon, als sie auf dem Parkplatz bei ihm eingestiegen war, bemerkt, dass sie Probleme mit ihrer Atmung hatte. Auch jetzt, als sie auf Leos Beifahrersitz schlief, während Leo den Jeep Richtung Tiroler Grenze lenkte, atmete sie sehr flach und ihr Gesicht war hitzig und verschwitzt. Er hoffte, dass es nichts Ernstes war. Kerner würde ihn umbringen, sollte das Mädchen ihm oder seiner Kundschaft irgendeine Krankheit anhängen.
    Das Handy riss Leo aus seinen Gedanken. Es war Tom.
    „Du musst nicht über die Grenze“, raunte Tom mit seiner rauchig-heiseren Flüsterstimme in Leos Ohr. „Kerner kommt nach Garmisch. Da kannst du die Kleine abliefern.“
    „Bei dir?“, fragte Leo.
    „Wo sonst?“, antwortete Tom. „Und beeil dich. Kerner will um Mitternacht kommen.“
    „Das ist ja noch zwei Stunden hin. Ich bin in spätestens zwanzig Minuten da.“
    „Sehr gut. Wir warten auf dich. Phil und Teddy sind auch schon da.“
    „Alles klar, bis gleich.“
    Als Leo das Handy wieder in den Aschenbecher legte, sah er, dass Lena wach geworden war.
    „Was ist denn los?“, fragte sie verschlafen. Ihre Stimme krächzte ein bisschen. Kein gutes Zeichen.
    „Ein Freund von mir. Ich kann bei ihm in Garmisch übernachten. Er hat bestimmt nichts dagegen, wenn ich dich mitbringe. Dann brauchen wir nicht mehr so weit zu fahren.“
    „Mir wäre es ehrlich gesagt lieber, wenn wir heute noch nach Tirol kämen. Von da aus schlag ich mich dann sowieso allein durch.“
    „Das ist doch egal“, meinte Leo. „Die Grenze bringt dir eh nichts. Vor wem auch immer du wegläufst, es spielt keine Rolle, ob du dich in Bayern oder Tirol versteckst. Schließlich ist das nur die österreichische Grenze, nicht die mexikanische.“
    „Ja, stimmt schon“, wand sich Lena. „Dann ist es wahrscheinlich besser, wenn wir uns gleich in Garmisch trennen.“
    „Ach, Unsinn. Du kannst gerne bei uns schlafen. Sei doch froh, dass du ein trockenes Plätzchen für die Nacht hast. Morgen kannst du dann weiterziehen.“
    „Ach weißt du, mir geht es nicht so gut ...“
    Endlich sprach sie es an. Leo beschloss, sich Gewissheit zu verschaffen.
    „Sag mal, das ist doch hoffentlich nicht ansteckend, was du hast?“, fragte er.
    „Nein, keine Sorge“, beruhigte ihn Lena. „Ein altes Familienleiden, das manchmal zum Vorschein kommt. Ich hab auch meine Medizin dafür dabei.“
    Sie zog einen durchsichtigen kleinen Flachmann aus ihrer Tasche, in dem eine widerlich minzgrüne Brühe schwappte, und nahm einen tiefen Schluck.
    „Na also, dann ist doch alles in Ordnung“, meinte Leo.
    „Nun ja, ich hab es damit einigermaßen unter Kontrolle. Aber es könnte sein, dass es mir heute Nacht wieder schlechter geht. Da will ich dir und deinem Freund wirklich nicht zur Last fallen.“
    „Wirst du nicht, ehrlich. Sei ganz beruhigt. Tom ist ein prima Typ.“
    „Glaub ich dir ... wirklich Leo, danke. Aber sobald wir in Garmisch sind, mach ich mich vom Acker.“
    „Dein letztes Wort?“
    „Ja, sorry. Ist echt nicht persönlich gemeint.“
    „Nein, nein, hab ich auch nicht so aufgefasst.“
    So war das also, das Mädchen würde es ihm nicht leicht machen. Also musste ihr Leo gleich auf die harte Tour kommen. Ob jetzt oder später, spielte ohnehin keine Rolle.
    „Kannst du mich in der Nähe einer Bushaltestelle rauslassen?“, fragte Lena.
    „Klar. Ist eh eine direkt bei Toms Haus. Da kann ich dich rauslassen.“
    Etwa eine Viertelstunde später hielt Leo in einer abgelegenen Seitengasse von Garmisch vor einem alten, etwas verfallenen Haus. Mittlerweile war es schon dunkel geworden.
    „Ich sehe die Haltestelle gar nicht“, sagte Lena mit einem seltsam
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