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Kurz bevor dem Morgen graut

Kurz bevor dem Morgen graut

Titel: Kurz bevor dem Morgen graut
Autoren: Andreas Kimmelmann
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Mitternacht, wieso?“
    „Du Narr! War ich so lange bewusstlos?“
    „Ja, das Zeug hat dich ganz schön ausgeknockt.“
    „Dann ist es gleich zu spät! Ich brauche meine Medizin, sofort! Gib sie mir, schnell!“ Aus dem Röcheln war ein Kreischen geworden.
    „Kann ich nicht“, sagte Leo, nunmehr wirklich beunruhigt. „Die Flasche ist mir draußen zerbrochen!“
    „Dann bist du verdammt, Leo“, fauchte Lena, warf den Kopf in den Nacken und begann plötzlich hysterisch zu lachen.
    „Was ist denn mit dir los?“, schrie Leo.
    In Sekundenschnelle ging eine Veränderung mit dem Mädchen vor. Ihre Augen ... bildete er sich das ein? Sie schienen größer zu werden und nach vorne zu treten. Und die Farbe ... dieses Gelb ...
    Mit einem Mal riss die vermeintlich Hilflose ihre hinter ihrem Rücken gefesselten Hände nach vorne. Die Überreste der Handschellen flogen in verschiedene Ecken des Zimmers.
    Nun war es an Leo, hysterisch zu kreischen.
    Im gleichen Moment spreizte Lena ihre Beine und zerriss die Fußfesseln. Dann stand sie auf.
    Als das fahle Mondlicht durch das Fenster hereinfiel und ihr Gesicht beleuchtete, begann ihr Gegenüber langsam zu begreifen.
    „Ich verliere den Verstand ...“, hauchte er und taumelte zurück.
    Nun begann die Tramperin, sich wirklich zu verändern. Sie schien größer zu werden, viel größer. Ihr Gesicht und ihre Hände ... Leo sah Haare sprießen, dunkelbraune Haare, die fast wie Stacheln aussahen. Und plötzlich sah er noch etwas anderes. Krallen. Und Zähne.
    Als Lenas rechte Pranke nach seinem Körper schlug, spürte er kaum etwas. Erst nach ein paar Sekundenbruchteilen sah der einstmals Überlegene verschwommen, wie das Ding hektisch seine Gedärme herunterschlang. Mit letzter Kraft wankte er einen Schritt auf sie zu. Ihre linke Pranke fuhr über seinen Hals. Sterbend sah Leo noch, wie Lena begierig von der Blutfontäne trank, die sie verursacht hatte. Er bekam nicht mehr mit, dass sie seinen Kopf vom Rumpf trennte und wie eine Kokosnuss aufbiss, um sein Gehirn zu essen.
    Schmatzend stellte die Wölfin ihre wachsamen Ohren auf. Sie hörte hektische Schritte auf der Treppe von mindestens drei Männern. Der Geruch von Angst lag in der Luft. Leos Freunde würden ihren Hauptgang bilden. Das Dessert jedoch kam um Mitternacht. Ihr neuer Boss. Lena hatte nun wirklich Hunger. In Situationen wie diesen verstand sie, warum ihre Mutter immer gesagt hatte, der Appetit käme beim Essen.

DIE WEISSE FEE DES TODES
    Niemand beachtete den kleinen Jungen von etwa sieben bis acht Jahren, der sich durch die Menschenmenge drängte und in den Bus sprang. Er ging unbemerkt von dem Busfahrer, der gerade einer älteren Dame einen Fahrschein ausstellte, die Reihen entlang und setzte sich ganz nach hinten. Er nahm seinen Rucksack ab, legte ihn sich auf den Schoß und strich sich das lockige schwarze Haar aus der Stirn. Sein Herz klopfte ihm bis zum Hals. Aber er hatte sie abgehängt. Hoffte er.
    Als er zum Fenster hinaus blickte, gefror ihm das Blut in den Adern. Da stand sie, inmitten der Menge am Busbahnhof und blickte sich um. Ihr langes Haar wurde von einer leichten Brise angehoben und schimmerte tiefrot wie immer, rot wie das Blut seiner Eltern, das das ganze Schlafzimmer bedeckt hatte. Ihre giftgrünen Augen stierten durch die Menschen um sie herum. Sie suchte ihn. Wenn er jetzt nicht Glück hatte, würde sie ihn finden. Er wandte die Augen ab, nicht nur um ihrem Blick auszuweichen, sondern auch, weil ihr schneeweißes Gewand ihn blendete. Sie leuchtete so hell wie eine gute Fee im Märchen, aber sie war nicht gut. Wohin sie kam, brachte sie Tod und Verderben. Sie kündigte sich an. Er hörte immer die leise gepfiffene Melodie, mit der sie ihr Kommen bekannt machte, so wie jetzt. Sie dröhnte in seinem Kopf und er hielt sich die Ohren zu. Wenn sie auftaucht, stirbt jemand, dachte der Junge. So wie seine Eltern in der Nacht davor. Er rutschte etwas in seinen Sitz zurück, damit sie ihn nicht sehen konnte.
    Der Bus fuhr an und er atmete auf. Er hatte es fast geschafft. Einmal noch umdrehen und zurückblicken. Hatte sie ihn gesehen? Er wusste es nicht, aber sie sah in seine Richtung. Sie machte keine Anstalten, dem Bus zu folgen. Allerdings – wenn sie ihn gesehen hatte, wusste sie, wo er hinfuhr. Er musste unterwegs eine Möglichkeit finden, sich abzuseilen. Sonst war er verloren.

    Der Bus schoss durch die Nacht. Die dunklen Bäume rechts und links der Landstraße beobachteten den Jungen stumm.
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