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Kurz bevor dem Morgen graut

Kurz bevor dem Morgen graut

Titel: Kurz bevor dem Morgen graut
Autoren: Andreas Kimmelmann
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(ich weiß, dass es das Wort goldbrünett nicht gibt, aber anders kann ich es nicht beschreiben), ihr zartblasses Gesicht, ihre strahlend hellblauen Augen. Sie war etwas luftig angezogen für Mitte September, trug ein türkises Polo-Shirt und einen braunen Rock, der bis kurz oberhalb der Knie reichte. Ich erinnere mich noch an jedes Detail unserer ersten Begegnung.
    Eigentlich war ich zu jener Zeit noch mit Linda Berndorfer zusammen, aber was zählt das schon, wenn man 17 ist und gerade der Frau seiner Träume begegnet ist.
    Kiandra war auch 17, zumindest dachten wir das damals alle. Sie war angeblich von einer anderen Schule aus Würzburg gekommen. Ihre Ermittlungen haben später ergeben, dass sie von ihren Eltern angemeldet worden war. Nur, dass Sie diese Eltern nie gefunden haben, weil die Adresse nicht gestimmt hat. Auch in der Schule in Würzburg wusste niemand, dass Kiandra dort einmal Schülerin gewesen sein sollte. Wer ihre Eltern gespielt hat, weiß ich nicht. Wahrscheinlich dieselben, die ihre Papiere ausgestellt haben. Ich hoffe, ich beschwöre sie jetzt nicht wieder herauf, nachdem ich 21 Jahre lang meine Ruhe vor ihnen gehabt habe. Für mich selbst ist es mir ja egal, aber Ihnen möchte ich es nicht zumuten. Sie sollen im Ruhestand die Lösung Ihres Rätsels bekommen, nicht jedoch den Schrecken von damals nochmals ausgesetzt werden.

    Sei’s drum, Kiandra war definitiv eine exotische Erscheinung in unserer damals doch sehr dörflichen Idylle. Allein schon der Name. Sie erklärte mir einmal, dass es „aufgehende Sonne“ hieß. Überprüft habe ich es nie, in all den Jahren nicht.
    Die anderen Mädchen waren ihr gegenüber anfangs sehr reserviert. Vor allem Linda. Sie hatte gesehen, wie ich Kiandra angeblickt hatte. So kam es, dass ich der Erste war, der sie in der Pause ansprach. Sie freute sich sehr und ihre Augen leuchteten, als sie mir erzählte, dass sie wegen des Stellenwechsels ihres Vaters hierher gezogen war. Ihr Vater war Polizist in München, behauptete sie. Eine ziemlich dreiste Lüge, freilich, aber ich habe sie geglaubt.
    „Dann hast du gar keine Freunde hier?“, fragte ich.
    „Nein, leider nicht“, meinte sie. „Willst du mein Freund sein?“
    Ich errötete. Nie zuvor war ein Mädchen so direkt zu mir gewesen. Mit Linda war ich schon ein halbes Jahr zusammen und hatte sie noch nicht einmal an intimeren Stellen anfassen geschweige denn, ein Kleidungsstück entfernen dürfen. Wir waren eine zwölfte Klasse und noch keiner hatte seine Unschuld verloren. Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen.
    Ich stotterte. „Nun ja, ich ... lass uns doch erst einmal ...“
    Sie wurde rot, als ihr klar wurde, dass sie sich missverständlich ausgedrückt hatte.
    „Ich meinte freundschaftlich“, hauchte sie und schlug die Augen nieder.
    „Oh ...“, meinte ich erleichtert. „Ja, klar, gerne.“
    Nicht, dass ich nicht gerne ihr richtiger Freund gewesen wäre. Aber die Komplikationen mit Linda wollte ich mir (noch) ersparen. Es war im Übrigen nicht das letzte Mal, dass mir auffiel, wie anders Kiandra war. Sie bediente sich oft einer altmodischen Sprache, war sich manchmal nicht sicher, ob sie etwas richtig formuliert hatte. Damals dachte ich, dass sich in Würzburg wahrscheinlich die Welt ein wenig anders drehte als in Icking.

    Nun, wir waren Freunde. Und die ersten Tage waren wir auch nicht mehr als das. Wir saßen irgendwann nebeneinander, weil sonst niemand neben „der Neuen“ sitzen wollte. Die Jungs trauten sich nicht, die Mädchen mochten sie nicht. Manchmal saßen wir am Nachmittag noch auf der Bank vor der Schule. Sie erklärte mir Latein, ich ihr Mathe.
    Nach etwa einer Woche brach sie das Eis auf ihre Art.
    „Leg das dumme Mathebuch zur Seite“, meinte sie. „Ich will dich jetzt küssen.“
    Ich musste das Buch gar nicht zur Seite legen. Ich ließ es vor Schreck fallen.
    Sie sah mich belustigt an.
    „Was ist, hast du noch nie ein Mädchen geküsst?“
    „D-doch, aber ...“
    „Aber was?“
    „Na ja, da ist Linda und ...“
    „Siehst du Linda irgendwo? Sie ist nicht hier, oder? Also, jetzt küss mich endlich, oder willst du nicht?“
    Ich wollte. Ich küsste. Es war fantastisch. Sie war nicht wie die Mädchen aus meiner Klasse, die immer ganz zaghaft und schüchtern küssten. Sie wusste, was sie tat. Irgendwie machte mir das Angst – sie musste wohl schon mit mehreren Jungs zusammen gewesen sein. Aber andererseits war es mir auch wieder egal. Hauptsache, sie war jetzt
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