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Kurz bevor dem Morgen graut

Kurz bevor dem Morgen graut

Titel: Kurz bevor dem Morgen graut
Autoren: Andreas Kimmelmann
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Frau? Hielt sie die Hauseigentümerin in ihrem Bad fest? Oder war noch jemand ... oder etwas Anderes in diesem Haus?
    Dann irgendwann drehte ich mich um und ging meiner Wege. Erst an der Ecke angekommen, wandte ich mich noch einmal in Richtung des Hauses.
    Durch das Fenster konnte ich Kiandra im Wohnzimmer erkennen. Sie wirkte aufgelöst und erregt. Außerdem gestikulierte sie wild herum, als würde sie mit jemandem sprechen. Dann sah ich ihn. Er stand vor Kiandra, mindestens einen Kopf größer als sie und so breit wie ein alter Bauernschrank. Sein Gesicht konnte ich nicht erkennen, weil er einen langen beigen Lodenmantel mit Kapuze trug. Sein Arm fuhr nach vorne und packte Kiandra am Hals.
    Einen Moment lang war ich starr vor Schreck. Dann rannte ich, so schnell mich meine Füße trugen, zum Haus zurück. Ich klingelte Sturm und hämmerte an die Tür. Mit der Faust, nicht mit dem Pudelkopf.
    Kiandra öffnete zögerlich die Tür. Ihre Augen waren verweint, ich sah noch die Male an ihrem Hals.
    „Was ist passiert?“, rief ich aufgeregt. „Soll ich die Polizei rufen?“
    „Nein, schon gut“, schniefte Kiandra. „Ich ... ich hatte nur einen Streit mit meinem Vater.“
    „Mit deinem Vater? Ich dachte, der ist in Berlin!“
    „Nein ... er ist gerade zurückgekommen und möchte mich wieder abholen.“
    „Und dein Vater würgt dich?“
    „Du verstehst das nicht, er ... er hat momentan eine Menge Stress.“
    „Aber ...“
    „Wir können uns eine Weile nicht sehen“, schluchzte sie.
    Dann warf sie mir die Tür vor der Nase zu.

    Von diesem merkwürdigen Tag an sah ich Kiandra fast zwei Wochen lang nicht. Sie kam auch nicht mehr zur Schule. Ich begann mir wirklich Sorgen zu machen, traute mich aber nicht, mit jemandem darüber zu sprechen. Ich fürchtete zu sehr, Kiandra könnte Ärger bekommen.
    Dann, eines schönen Freitags, tauchte sie wieder in der Schule auf. Wie sie oder ihre „Eltern“ die lange Abwesenheit mit der Direktorin geregelt hatten, weiß ich nicht. Vermutlich wissen Sie es.
    Sie setzte sich neben mich. Die Würgemale an ihrem Hals waren verschwunden.
    „Es tut mir leid“, flüsterte sie. „Ich mach es wieder gut.“
    „Schon okay“, meinte ich, ehrlich besorgt.
    „Ich mein es ernst“, fuhr sie fort. „Ich mach es wirklich wieder gut. Hast du heute Abend schon was vor?“
    „Ähm ... nein. Wieso?“
    „Kannst du über Nacht wegbleiben?“
    Ich kann mir vorstellen, lieber Herr Hauptkommissar, an dieser Stelle steigt Ihre Spannung ins Unermessliche. Ja, Sie vermuten richtig. Wir sind am Kern der Geschichte angelangt. Dem Vorabend zu den schrecklichen Ereignissen jener Nacht. Freitagabend, den 18.10.1992 wollte Kiandra mich sehen.
    Ich stutzte zunächst ob ihrer Frage. Nun, eine Nacht konnte ich schon einmal zu Hause wegbleiben. Ich würde meinen Eltern erzählen, dass ich bei Jörg schlafen würde, der war auch aus meiner Klasse.
    „Ja, klar“, sagte ich deswegen.
    Nach der Schule erläuterte sie mir ihr Vorhaben näher.
    „Es gibt eine alte Hütte unten am See“, meinte sie. „Wir könnten dort die Nacht verbringen, es ist sehr gemütlich.“
    „Wem gehört denn die Hütte?“, fragte ich.
    „Einem alten Bauern aus der Gegend. Ich war dort früher immer als Kind mit meinen Eltern.“
    „Als Kind? Aber ich dachte, du bist aus Würzburg.“
    „J ... ja. Aber im Urlaub waren wir oftmals hier.“
    „Ach so. Und der Bauer ist einverstanden, wenn wir dort hinkommen?“
    „Er muss es ja nicht wissen“, sagte sie und zwinkerte. „Aber ich weiß, dass er seinen Schlüssel immer unter der Fußmatte versteckt.“
    Ganz wohl war mir nicht dabei, mit Kiandra in eine Hütte einzubrechen. Rückblickend war das mein kleinstes Problem, nachdem ich mich wegen Kiandras Verschwinden und Margarethe Schusters Tod befragen lassen musste. Zum Glück ist alles im Sande verlaufen. Aber ich wollte Kiandra nicht verärgern und der Gedanke an eine Nacht ganz allein mit ihr war schon verlockend.
    „Wie kommen wir denn da hin?“, fragte ich. „Zum See müssen wir doch ein ganzes Stück durch den Wald. Willst du das laufen?“
    „Nein, wir fahren natürlich.“
    „Fahren? Ich kann nicht fahren. Und ich hab kein Auto.“
    „Ich borge mir das Auto von Frau Schuster.“
    Da haben Sie das Puzzleteil zu dem Wagen, Herr Seidel. Wie Margarethe Schuster hineinpasst? Warten Sie es ab.
    „Du kannst fahren?“, frage ich. „Du bist doch erst 17!“
    „Na ja, einen Führerschein hab ich natürlich nicht.
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