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Kurz bevor dem Morgen graut

Kurz bevor dem Morgen graut

Titel: Kurz bevor dem Morgen graut
Autoren: Andreas Kimmelmann
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ich mich hinter seinem Zaun versteckt hatte. Er betrachtete mich eine Weile, schüttelte den Kopf und legte einen Finger über die Lippen. Ich verstand und nickte. Dann warf er mir den Stock zu und ging ins Haus.
    Den Stock, der voll Blut war, legte ich mir im Bett in den Arm, um endlich einschlafen zu können. Rückblickend glaube ich, dass mich der Gedanke, das unfassbar Böse plötzlich doch fassen zu können, beruhigt hat. Ich schlief in dieser Nacht wie ein Baby. Nie wieder ging ich ohne den Schläger schlafen.
    Jedenfalls wandte sich nun für mich Vieles zum Besseren. Der Welter verprügelte seine Frau nicht mehr und sie schrie nicht mehr. Außerdem ließ er sich kaum noch in der Schankstube sehen. Das führte dazu, dass mein Onkel mich nicht mehr so oft schlug. Für mich begann der interessanteste Sommer meines Lebens. Und dann kam Noni.
    Sie hatte einen schlechten Einstand, denn wir fanden sie neben unserem Lieblingspferd stehend, das tot am Boden lag. Sein Hals war durchgebissen und Nonis Mund war voll Blut. Ich dachte zuerst, sie sei ein Vampir oder Werwolf, aber ihre Zähne sahen normal aus. Sie wirkte wie ein gewöhnliches Mädchen von vielleicht fünfzehn Jahren mit hübschen kastanienbraunen Haaren. Ich verliebte mich sofort in sie.
    „Suche ... Arbeit“, stammelte sie mit einem komischen Akzent.
    Die hatte vielleicht Nerven! Aber mein Onkel sah sie nur starr an und fragte sie, wie sie hieß. Ich sah, dass seine Beine zitterten.
    „No ... ni“, sagte sie.
    Mein Onkel schüttelte den Kopf, als könne er es nicht glauben und sagte zu ihr, dass sie unsere neue Magd werden sollte. Ich erwartete, dass er sie zu Hause ordentlich bestrafen würde wegen des Pferdes, aber er tat es nicht. Bis zu jenem Abend im August legte er nie Hand an Noni.
    Noni wurde in diesem Sommer Magd und Kindermädchen zugleich. Ich liebte sie, obwohl sie kein Wort mit mir wechselte. Sie sang immer nur ihr Lied, dieselbe Melodie. Abends sang sie es mir zum Einschlafen vor, während ich den Stock im Arm hielt. Nachts, wenn wir schliefen, war mir so, als sänge der Wind dasselbe.
    Noni war für mich wie eine große Schwester. Während sie bei uns war, schlug mich mein Onkel nie. Bis zu jenem Abend im August. Noni und ich saßen auf der Treppe vor unserem Haus. Mein Onkel kam von der Schankstube, das Gesicht voll Blut. Ich wusste, was los war. Der Welter ging wieder aus dem Haus. Mein Onkel wankte wortlos an uns vorbei, dann holte er seinen Stock. Er warf mich auf den Tisch und begann mit der Prozedur. Plötzlich hörte er auf. Als ich mich umdrehte, hielt Noni seinem Arm fest. Ich wollte weglaufen, aber das laute Knacken hielt mich auf. War es möglich, dass Noni den schweren Stock zerbrochen hatte? Der Stock lag auf dem Boden, unversehrt. Es war das Handgelenk meines Onkels, das gebrochen war. Seine Hand stand in einem seltsamen Winkel von seinem Unterarm ab. Er griff nach dem Stuhl. Ich schrie. Noni lächelte und sagte, dass es nun wieder soweit sei. Das waren ihre letzten Worte, bevor der Stuhl auf ihren Kopf niedersauste. Ich kniete mich neben meine am Boden liegende Freundin und weinte. Die Blutlache um ihren Kopf war größer als die der Danner-Magd. Ihr Mörder sagte kein Wort. Ich ging in mein Zimmer, um den Schläger zu holen. Als ich zurückkam, lag mein Onkel tot am Boden, sein Kopf kaum noch erkennbar. Der Welter stand in der Tür, die Axt in der Hand. Sein Gesicht war verschwollen. Mein Onkel musste es ihm heute ordentlich gegeben haben. Zum letzten Mal. Ich schloss die Augen, als er mit der Axt auf mich zukam. Dann erklang Nonis Lied. Ich dachte zuerst, es sei der Wind, aber es war Noni, die sich langsam aufrichtete. Ihr Gesicht war nicht mehr jung und hübsch, sondern sah aus, als sei es mehrere hundert Jahre alt, runzlig und verfault. Ihr Haar war nicht mehr kastanienbraun, sondern grau, so wie der Staub unter dem Küchentisch. Sie sang ihr Lied und wir lauschten ihr, auch noch, als sie dem Welter die Kehle durchbiss. Denn während sie den Mund voll hatte, sang der Wind. Dann wurde es schwarz um mich herum.

    Am nächsten Tag kam der Danner und erklärte sich zum neuen Herrn auf dem Hof. Er begrub meinen Onkel und den Welter hinter dem Haus. Noni blieb verschwunden. Der Danner machte mich zu seinem Knecht und behandelte mich härter als mein Onkel. Den Ochsenschwanz jedoch bekam ich nie zu spüren. Mit zwölf verließ ich unser Tal und dachte, ich sollte nie zurückkehren. Ich schlug mich von Hof zu Hof als Knecht
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