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Kurz bevor dem Morgen graut

Kurz bevor dem Morgen graut

Titel: Kurz bevor dem Morgen graut
Autoren: Andreas Kimmelmann
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ob er erwachsen wäre. Pers Eltern waren allerdings meist nicht zu Hause und kümmerten sich nicht sonderlich um das, was Per tat. Seine Eltern hatten da ein wachsameres Auge. Blieb er eine Stunde länger weg, als verabredet war, gab es schon einmal zwei Wochen Hausarrest, so wie jetzt. Hausarrest brechen war wirklich eine ernste Sache. So weit hatte er es bis dato noch nie getrieben.
    „Komm schon“, rief Per. „Was wollen deine Eltern schon machen?“
    Ihm fielen eine Menge Sachen ein. Allerdings waren seine Eltern noch mindestens zwei Stunden weg, insofern ...
    „Also gut“, meinte er, „ich bin gleich unten.“
    Er rannte hinunter, zog sich seine hellblaue Windjacke an und lief vor die Tür, wo Per schon auf ihn wartete.
    Rückblickend ist er sich nicht sicher, ob der Mann im schwarzen Mantel und mit dem schwarzen Hut von damals derselbe schwarze Mann ist, der ihn durch diesen Traum verfolgt. Er könnte es sein, muss aber nicht. Er saß auf einer Bank am Waldrand und fütterte zwei schwarze Raben, die sich zu seinen Füßen niedergelassen hatten, mit einer Brez´n.
    Die Raben hatten etwas Unheimliches an sich, er spürte es sofort. Sie beobachteten ihn, es war ein wissender Blick. Normalerweise blickten Tiere auf eine Art und Weise, als wollten sie etwas sagen, konnten es aber nicht, weil sie der menschlichen Sprache nicht mächtig waren. Diese Raben sahen ihn an, als könnten sie jeden Moment das Wort ergreifen, wollten es aber nicht.
    Als er merkte, dass er nicht mehr die ungeteilte Aufmerksamkeit seiner dunklen Gefährten hatte, blickte der Mann auf. Er besah die Jungen mit einem durchdringenden Blick, dann griff er in seine schwarze Jutetasche, die neben ihm auf der Bank stand, und holte etwas hervor. Es war eine weitere Brez´n. Wortlos streckte er sie den Jungen entgegen.
    Er kann sich immer noch nicht erklären, warum er damals die Brez´n angenommen hat. Alles an dem Mann schreckte ihn ab, eine unsichtbare Präsenz, die ihm ins Ohr zu schreien schien, er solle weglaufen, solange er es noch konnte.
    Und doch ergriff er die Brez´n, hielt dem Blick des schwarzen Mannes zitternd stand und zog seine Hand langsam zurück. Dann sah er es. Es war nur ein flüchtiger Moment, kaum wahrnehmbar. Aber er wusste, was er gesehen hatte. Das Gesicht des schwarzen Mannes hatte sich verändert. Es war eine Sekunde lang nicht das Gesicht eines Menschen gewesen. Sondern, das Gesicht eines Raben.
    Ohne weiter darüber nachzudenken, rannte er davon, hinein in den Wald. Er hörte Pers verwunderte Rufe, kümmerte sich aber nicht darum. Er hoffte, dass Per ihm nachrennen würde, aber eigentlich war es ihm egal. Er wollte nur weg.

    Er sieht es vor sich wie damals, ein zwölfjähriger Junge, dessen Weltbild ins Wanken gebracht worden ist. Er ist auf der Flucht, aber er weiß nicht, wovor. Auf einer Lichtung bleibt er stehen. Er blickt sich hektisch um, ob er verfolgt wird. Der schwarze Mann ist nirgendwo zu sehen, aber auch von Per fehlt jede Spur. Nur die herbstlichen Bäume, die ihn umringen. Ein leichter Wind kommt auf, aber er fühlt sich falsch an, unecht. Es ist, als würde der Wind aus allen Richtungen gleichzeitig kommen. Ein hässlich braunes Blatt fliegt ihm ins Gesicht, klebt feucht und glitschig an seiner Stirn, um dann leblos vor seine Füße zu fallen. Es werden mehr Blätter, immer mehr, sie starren ihn an mit ihren toten Augen, den Augen, die aussehen wie Rabenaugen. Er schreit, er dreht sich, er ist übersät mit feuchten braunen Blättern, er wankt. Dann wird alles schwarz um ihn herum. Schwarz wie die Augen der Raben.

    Ein Suchtrupp, bestehend aus seinen und Pers Eltern sowie ein paar Nachbarn wird ihn Stunden später finden. Sie werden einen verwirrten Jungen finden, der voller Blätter am Waldboden liegt, sich in die Hose gemacht hat und wirr redet. Er redet von Raben, von toten Blättern, von einem schwarzen Mann und einer Brez´n. Pers Eltern schreien ihn an, schütteln ihn, wollen wissen, wo ihr Sohn ist. Sie werden ihn nie finden. Weder Per noch den schwarzen Mann, der ihn geholt hat.
    Er wird eine Therapie machen, wird monatelang gar nicht mehr sprechen, dann aber eines Tages wird es sein, als wäre nichts geschehen. Er wird sein Leben weiterführen, ein zielloses, ein sinnloses Leben. Ein einsamer Junge, der in seinen Träumen lebt.

    Noch immer steht er regungslos auf der Autobahn, sein zwölfjähriges Ich steht ein paar Meter vor ihm. Der Junge, der er selbst ist, geht ein paar Schritte voraus,
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