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Kurz bevor dem Morgen graut

Kurz bevor dem Morgen graut

Titel: Kurz bevor dem Morgen graut
Autoren: Andreas Kimmelmann
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wirklich, denn für gewöhnlich sollte er in einem solchen Traum alles unter Kontrolle halten können. Er rieb sich also die Hände – auch eine alte Methode von ihm, um Dinge in Träumen zu berichtigen – und sagte sich dabei vor: „Sie ist im Bad, sie ist im Bad, sie ist im Bad.“ Danach ging er zu selbigem und öffnete die Tür.
    Den grausigen Anblick, der sich ihm bot, wird er nie im Leben vergessen. Der Schrecken fuhr ihm so in die Glieder, dass er ihn heute noch spürt, obwohl es gefühlt schon so lange her ist.
    Im Badezimmer stand ein kleiner, feister Mann mit einem schwarzen Mantel und einem schwarzen Hut. In seiner rechten Hand hielt er Bettinas Kopf, der unterhalb des Halses abgetrennt worden war, an ihrem blonden Haarschopf fest. Ihre Augen waren verdreht und starrten ihn tot und kalt an. Ihr Blut tropfte auf den weißen Marmorboden.
    Falls er schrie, erinnert er sich heute nicht mehr daran. Er entsinnt sich nur noch, dass er starr vor Angst vor dem schwarzen Mann stand. Dieser blickte ihn an, zeigte mit der linken freien Hand auf ihn und sagte in einem leisen, sonoren Tonfall: „Du hast Blut an deinen Händen.“
    Das Letzte, was er von dieser schrecklichen Begegnung weiß, ist, dass er sich umdrehte, raus auf den Balkon rannte und über das Geländer sprang. Im Fallen drehte er sich dreimal um die eigene Achse. Noch bevor er auf dem Boden aufschlagen konnte, wechselte er den Ort.

    Der Ortswechsel dauerte lang, länger als sonst. Er schwebte im luftleeren Raum. Es war dunkel, aber kein tiefschwarzes Dunkel, eher ein düsteres Grau. So als würde man in einem Schwarzweißfoto sitzen und die Dämmerung beobachten. Er sieht den schwarzen Mann, aber er steht nicht mehr im Bad, sondern sitzt auf einer Bank. Er füttert zwei schwarze Raben mit einer Brez´n. Gierig picken die finsteren Tiere Stück für Stück des ihnen dargebotenen Schmauses auf. Plötzlich sieht er, dass es keine Brez´n mehr ist, die der schwarze Mann an die Raben verfüttert. Es ist ein Gesicht. Stück für Stück reißt der Mann es in Fetzen. Wangen, Lippen und zwei leuchtend blaue Augen landen vor den Schnäbeln der düsteren Vögel. Es ist nicht Bettinas Gesicht. Es ist das Gesicht eines dreizehnjährigen Jungen. Eines Jungen, den er vor langer Zeit gekannt hat. Es ist Pers Gesicht.
    Er dreht sich im Fallen durch die Leere, er schreit, aber die Schreie hallen durch das Vakuum, das ihn umgibt, und vervielfältigen sich. Sie mischen sich mit der Grabesstimme des schwarzen Mannes: „Du hast Blut an deinen Händen. Sein Blut.“

    Er landete in London, so wie er es sich im Fallen vorgestellt hatte. Auch eine Stadt, die er im Leben nie gesehen hatte. Die Erinnerung an die Schwerelosigkeit und Pers Gesicht verblasste, kaum dass er den Boden vor dem Tate Modern berührte. Nur die Erinnerung an Bettinas abgerissenen Kopf und den Mann im Bad war noch da. Er schüttelte den Kopf. Nur ein Traum!, sagte er sich im Inneren. Nur ein Traum.
    Er strich durch die Straßen an der Themse entlang, vorbei am Globe Theatre und an der Millennium Bridge. Vor der St. Paul’s Cathedral blieb er stehen und fragte sich, was er getan hatte. Nicht wegen des Mordes an Bettina, das war ihm egal. Schließlich war es nur ein Traum. Aber der Traum war außer Kontrolle geraten, so viel stand fest. Auch wenn er den schwarzen Mann abgehängt hatte, er war gefangen. Was war passiert? Er beschloss, nicht über zu dramatisieren und einfach noch ein bisschen zu warten. Er machte sich eine schöne Zeit in London. Ob es Stunden oder Tage waren, weiß er nicht. Er nahm sich ein Mädchen namens Kendra zur Gespielin. Sie verschwand nicht aus seinem Bett, auch kam kein schwarzer Mann mit Bettinas Kopf hinter ihm hergelaufen.

    Nach London war er eine Weile in New York. Den Sprung über den großen Teich hatte er bis dato noch nie gewagt, doch das war seine Chance. Nach einer ausgiebigen Sightseeing-Tour marschierte er mit einem Maschinengewehr in eine Bank und schoss alles nieder, was ihm in den Weg kam. Es war eine befreiende Erfahrung. Die ihn verfolgenden Polizisten setzte er mit einem Laserstrahl aus seinem Fluchtauto, einem Aston Martin, außer Gefecht.
    Sein Traum schien für einige Zeit wieder im Lot zu sein und seinen Wünschen zu gehorchen. Aber die Zeit wurde einfach zu lang. Irgendwann war ihm klar, dass schon Tage vergangen waren. Dann mussten es Wochen sein. Dann Monate.
    Er reiste umher. Washington, Toronto, Rom, Athen, Prag, Budapest. Alle Orte, von denen er
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