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Kurz bevor dem Morgen graut

Kurz bevor dem Morgen graut

Titel: Kurz bevor dem Morgen graut
Autoren: Andreas Kimmelmann
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dann ist er verschwunden. Zögernd folgt er ihm, dann plötzlich ist sein Weg zu Ende. Die A95 endet im Nichts, vor ihm erstreckt sich ein Abgrund. Ein Abgrund, der gefüllt ist mit toten braunen Blättern. Sie scheinen auf ihn zu warten, sie rufen ihm zu, er solle zu ihnen kommen, solle ihnen Gesellschaft leisten. Er hört Pers Stimme, er ist da unten, er freut sich auf ihn.
    Dann hört er noch etwas anderes. Es sind die Raben, ihre Schreie ertönen in dem aufkommenden Sturm. Er kann sie nicht sehen, der Himmel ist grau und leer. Er blickt auf seine Hände. Auch sie sind grau geworden, wie in einem Schwarzweißfilm. Er hört ein Grollen hinter sich, das er erkennt. Es ist dasselbe Grollen wie in Amsterdam, als die Stadt in sich zusammengebrochen ist. Nun bricht auch dieser Teil seiner Welt zusammen. Er versucht nicht einmal mehr einen Ortswechsel, weil er weiß, dass es zwecklos ist. Das ist die letzte Station seines Traumes, das Ende. Wahrscheinlich stellten sie in diesem Moment die Maschinen ab, die ihn am Leben erhielten. Ob er diesen Traum verlassen würde, wenn er starb? Oder würde er hier festsitzen, für immer in einem Haufen lebloser Blätter mit den Raben und dem Jungen, den er vergessen hatte?
    Er weiß es nicht. Er schließt die Augen. Er kennt das Gefühl, in einem Traum zu fallen. Es ist ein schreckliches Gefühl, das sich durch den Unterbauch zieht, ein Gefühl der Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins. Sonst ist er immer aufgewacht, wenn er im Traum gefallen ist. Nun fällt er. Er fällt immer weiter, immer tiefer, aber er wacht nicht auf.
    Er möchte fliegen. Fliegen, wie ein Rabe. Er versucht es. Es geht nicht. Er versucht sich an seinen Namen zu erinnern, vergeblich. Er fällt weiter.

IN DIESEM SOMMER WIRD ALLES ANDERS
    In diesem Sommer wird alles anders.
    Dieser Satz erhellt die Dämmerung in seinem Verstand, während er die Augen öffnet und in den sternenklaren Himmel schaut. Er liegt auf dem Rücken, es ist nass und feucht um ihn herum und sein Kopf fühlt sich an, als habe er eine durchzechte Nacht hinter sich. Als er die Arme bewegen will, merkt er, dass sie hinter seinem Rücken gefesselt sind. Auch seine Füße sind zusammengebunden. Panik steigt in ihm auf. Wo ist er? Was macht er hier? Er liegt auf felsigem Boden, das nächtlich schwarze Meerwasser umspült seinen nackten Körper. Wieso ist er nackt? Was ist passiert?
    Plötzlich ein vertrautes Gesicht. Anja beugt sich über ihn, ihr langes feuerrotes Haar wird von einer sanften Brise angehoben. Sie lächelt. Es ist kein freundliches Lächeln. Es ist das Lächeln einer Frau, die Schmerz kennt und nun Schmerz bereiten will.
    „In diesem Sommer wird alles anders, hast du gesagt“, presst sie mit zittriger Stimme hervor. „Damit könntest du recht behalten.“
    In diesem Sommer wird alles anders.
    Dieser Gedanke hat ihn schon das ganze Frühjahr verfolgt, aber diesmal wollte er ihn umsetzen. Wie oft hat er diesen Satz schon zu Anja gesagt, wenn sie heulend auf einem Hotelbett gesessen und er den Arm um sie gelegt hat. Bei wie vielen Gelegenheiten hat er ihr mit diesen Worten beteuert, dass er sie in diesem Sommerurlaub nicht bzw. nicht mehr betrügen würde. Meist, wenn es schon das erste Mal passiert war. Wenn er sich nachts, statt zu schlafen, noch einmal aus dem Hotelzimmer geschlichen hatte, um mit irgendeinem aufgedrehten Partymädchen anzubändeln und erst früh morgens verkatert und mit einem reicheren Schatz an außerehelichen sexuellen Erfahrungen zurückzukehren.
    „In diesem Sommer wird alles anders.“
    Er hatte seine eigenen Worte gehört, hatte sie sogar geglaubt. Anja schien sie auch gehört zu haben, doch ihr leerer, glasiger Blick war nicht zu deuten gewesen.
    „Das hoffe ich“, hatte sie gemeint, während sie ihre Koffer ausgepackt hatte, in demselben Hotelzimmer, in dem sie schon so viele Tränen vergossen hatte, wenn ihr ein neuerlicher Fall von Svens Untreue gewahr geworden war. Erstmals vor vier Jahren mit dieser Trixie aus Hannover. Blond, üppige Oberweite. Dann vor drei Jahren mit einer Babsi aus Düsseldorf. Brünett, kleinere Oberweite, aber sehr strammer Hintern. Vor zwei Jahren Vera aus Dortmund, die würde er wohl nie vergessen. Recht bieder aussehend, dicke Brille, aber was für eine Rakete im Bett – bzw. in der Düne. Letztes Jahr die große Schwarzhaarige aus Leipzig, der Name wollte ihm nicht mehr einfallen. Julia? Nein, Julia war es sicher nicht gewesen.
    Jedenfalls, dieses Jahr war es ihm
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