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Kurz bevor dem Morgen graut

Kurz bevor dem Morgen graut

Titel: Kurz bevor dem Morgen graut
Autoren: Andreas Kimmelmann
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ist.
    „Schon gut, ich spreche Deutsch“, sagt er mit einem leichten Akzent. „Sie haben großes Glück gehabt. Wir müssen Sie schnell hier rausbringen, bevor die Flut kommt.“
    „Wie schlimm ... ist es?“, brabbelt er mit weniger Zähnen als vorher.
    „Sie werden es überleben. Ihnen fehlen ein paar Zähne, aber die kann man ersetzen. Ihr Knie ist gebrochen und Ihr Oberkörper weist einen großen Schnitt von den spitzen Felsen auf. Außerdem haben Sie eine ordentliche Platzwunde am Hinterkopf, aber die kriegen wir hin.“
    „Susanne ...“
    „Die Dunkelhaarige, mit der Sie oben auf den Felsen getrunken haben?“
    „Ja. Sie ist tot.“
    „Tot? Nein, mein Lieber, da bilden Sie sich etwas ein. Sie hat uns doch zu Hilfe geholt.“
    „Hilfe geholt?“
    Verständnislosigkeit macht sich in Svens zerschundenem Gesicht breit.
    „Ja. Sie sagt, Sie wären rutzeblau die Felsen hinabgestürzt. Hat Sie ziemlich übel zugerichtet und vor allem wären Sie fast hier drin ertrunken. Aber das Mädchen hat uns gleich geholt.“
    Sven weigert sich zu begreifen, was er da hört.
    „Meine Frau ...“, stöhnt er.
    „Wie, eine Frau haben Sie auch noch hier auf der Insel?“, fragt der junge Sanitäter verwundert und schüttelt den Kopf. „Na, Sie sind mir vielleicht einer.“
    Sven denkt nach, während sie ihn auf die Trage hieven. Hat er sich alles nur eingebildet? War es tatsächlich nur ein Unfall? Ist Anja nie hier gewesen? War das nur ein Fiebertraum, während er schwer verletzt hier unter den Felsen lag?
    Als sie ihn nach oben tragen, sieht er Susanne besorgt bei den Schaulustigen stehen. Sie will ihnen nachlaufen, aber der junge Sanitäter wehrt sie ab. Wahrscheinlich fürchtet er eine hässliche Szene, wenn die Frau seines Patienten auftaucht, von der er gerade erfahren hat.

    Sven liegt in einem Krankenhausbett und starrt an eine hässliche weiße Decke. Es besteht kein Zweifel mehr. Seine treusorgende Ehefrau hat ihn niemals gefesselt in einer Höhle gefoltert. Sie hat arglos geschlafen, während er wieder nichts Besseres zu tun hatte, als sich das erstbeste Strandhäschen zu krallen. Wie würde er ihr das erklären? Sie würde es ohnehin herausfinden, so viel war sicher. Schließlich hatte sie ihn die ganze Zeit neben ihr im Bett vermutet. War das der Todesstoß für seine Ehe? Was würde er zu ihr sagen? „In diesem Sommer wird alles anders“? Sie würde vermutlich wortlos das Zimmer verlassen und die Scheidung einreichen.
    Er spürt eine brodelnde Nervosität in seinem Oberbauch aufsteigen, als Anja mit einem bestürzten Ausdruck im Gesicht das Zimmer betritt.
    „Sven?“, fragt sie, die Stimme mit leichter Hysterie unterlegt, während ihr die Tränen über die Wangen schießen. „Was ist denn nur passiert?“
    „Ich hab dich schon wieder betrogen“, presst er mühsam hervor. „Das ist passiert.“
    Lieber Ehrlichkeit als gar keine Strategie, denkt er.
    Anja sackt wortlos auf den Stuhl neben dem Bett. Sie blickt ins Leere.
    „Und was soll ich jetzt deiner Meinung nach tun?“, fragt sie, ein Schluchzen unterdrückend.
    „Ich hatte in dieser Höhle ... eine Vision. Oder eher einen Traum.“
    Anja sieht ihn verwirrt an.
    „Jedenfalls kann ich dir das nicht mehr antun“, erklärt er. „Ab jetzt werde ich ein treuer Ehemann sein, das verspreche ich dir.“
    „In diesem Sommer wird alles anders?“, fragt sie vorsichtig.
    „In diesem Sommer wird alles anders“, bekräftigt Sven.
    „Aber das weiß ich doch, Liebster“, sagt sie und lächelt plötzlich.
    „Du weißt es?“, fragt er verblüfft.
    „Aber ja“, sagt sie, grinst und wischt sich die Tränen aus dem Gesicht. „Denn beim nächsten Mal bleibt es nicht bei einer Warnung.“
    Mit diesen Worten legt sie einen Gegenstand auf den Nachttisch, der Sven das Blut in den Adern gefrieren lässt. Der spitze Stein, voller Blut. Seinem Blut.
    Sie nimmt ihn vom Nachttisch und steckt ihn ein. Sven ist nicht fähig zu sprechen.
    Anja steht ruhig auf und dreht sich zur Tür. Susanne steht da. Sie schmunzelt und zwinkert Anja zu.
    „Ich hab dir doch schon mal von meiner alten Studienfreundin Susanne erzählt?“, fragt Anja teilnahmslos. „Jedenfalls, das ist sie. Wenigstens hast du Geschmack, das muss man dir lassen.“
    „Ihr beide ...“, keucht Sven, wieder einer Ohnmacht nahe.
    „Ruh dich aus“, meint Anja milde. „Du brauchst all deine Kraft, um ein neues Leben anzufangen. Wie du gesagt hast: In diesem Sommer wird alles anders.“

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