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Die Zehnte Gabe: Roman

Titel: Die Zehnte Gabe: Roman
Autoren: Jane Johnson , Pociao
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EINS
    E s gibt nur zwei oder drei Geschichten der Menschheit, und diese wiederholen sich ein ums andere Mal, so leidenschaftlich, als hätte es sie nie zuvor gegeben, wie Lerchen, die seit Tausenden von Jahren immer wieder dieselben fünf Noten singen.«
    Diese Zeilen hatte ich in mein Notizbuch gekritzelt, als ich am Abend vor meinem Treffen mit Michael in einem Roman darauf gestoßen war. Ich hatte vor, sie beim Essen beiläufig fallenzulassen, obwohl mir klar war, wie er darauf reagieren würde (negativ, abschätzig - er war schon immer skeptisch gegenüber allem gewesen, was sich auch nur ansatzweise als »romantisch« bezeichnen ließ). Michael war Dozent für Europäische Literatur und vertrat eine kompromisslose, poststrukturalistische Haltung, als wären Bücher nichts weiter als Fleisch für das Hackbrett des Metzgers mit Sehnen und Muskeln, Knochen und Knorpel, die man sorgfältig aus ihrer Umgebung herauslösen und säubern muss. Michael hielt meine Ansichten zum Thema Literatur für gefühlsduselig und verschwommen, weshalb wir zu Beginn unserer Beziehung die heftigsten Auseinandersetzungen führten. Sie waren persönlich so verletzend gewesen, dass ich den Tränen nahe gewesen war, doch nun, nach sieben Jahren, konnten wir uns wenigstens gegenseitig damit aufziehen. Jedenfalls ließen sich damit das Thema Anna oder die Zukunft entweder umschiffen oder ganz vermeiden.
    Es war ohnehin schwer genug, so zu leben, in gestohlenen Augenblicken, mit einer auf Eis gelegten Zukunft, aber nach und nach hatte ich mich daran gewöhnt, sodass mein Leben
inzwischen ein erkennbares Muster aufwies. Es war ein bisschen reduziert und hatte nichts von dem, was andere für wichtig hielten, aber mir gefiel es. Zumindest redete ich mir das ein.
    Zu dieser Verabredung zog ich mich besonders sorgfältig an: ausgeschnittene Seidenbluse, schmaler schwarzer knielanger Rock, Seidenstrümpfe (Michael hatte, wie nicht anders zu erwarten, durchaus männliche Vorlieben) und Wildlederpumps mit Riemchen, in denen ich die halbe Meile bis zum Restaurant und zurück so gerade eben schaffte. Dazu meinen selbst gemachten Lieblingsschal: feiner schwarzer Kaschmir, der mit einer Unmenge von bunten Stiefmütterchen bestickt war.
    Ich habe immer gesagt, dass man Optimist sein muss, um sticken zu können. Bei einem großen Stück (wie diesem Schal) kann es sechs bis zwölf Monate Inspiration und Hingabe bedeuten. Und Entschlossenheit obendrein, ein zäher Wille, vergleichbar mit dem eines Bergsteigers, der bedächtig einen Schritt nach dem anderen macht, statt bei dem Gedanken an die gewaltige Aufgabe, an Gletscherspalten und vereiste Wandfüße in Panik zu geraten. Vielleicht glauben Sie, dass ich die Schwierigkeiten übertreibe - ein Stück Stoff, Nadel und Faden: Wie schwer kann das schon sein? Doch wenn man erst einmal ein kleines Vermögen für Kaschmir und noch eines für die Seide ausgegeben hat und nicht viel Zeit bleibt bis zur Hochzeit einer nervösen Kundin oder einer Ausstellung, wenn man obendrein nicht nur entwerfen und planen, sondern auch eine Million Stiche machen muss, ist der Druck enorm, glauben Sie mir.
    Wir waren in einem eleganten toskanischen Restaurant namens Enoteca Turi am südlichen Ende von Putney Bridge verabredet, wo wir normalerweise nur hingingen, wenn es etwas zu feiern gab. Diesmal stand, soweit ich wusste, weder ein Geburtstag noch eine Publikation oder Beförderung an. Letzteres wäre für mich ohnehin so gut wie ausgeschlossen gewesen, da ich mein eigenes Geschäft hatte und schon das Wort »Geschäft« eine gewisse Übertreibung für mein Ein-Frau-Unternehmen
darstellte: ein winziger Kunsthandwerksladen in Seven Dials. Es war mehr Liebhaberei als eine verlässliche Einnahmequelle. Fünf Jahre zuvor war eine meiner Tanten gestorben und hatte mir eine nicht unerhebliche Erbschaft hinterlassen; meine Mutter war ihr zwei Jahre später gefolgt, und ich war das einzige Kind gewesen. Der Pachtvertrag für den Laden war mir in den Schoß gefallen; in weniger als einem Jahr würde er auslaufen, und was ich anschließend damit anstellen wollte, hatte ich noch nicht entschieden. Ich verdiente mehr Geld mit Aufträgen als mit meinem Geschäft, und selbst die waren eher eine willkommene Gelegenheit, die Zeit totzuschlagen. Ich verstickte mein Leben und wartete auf das nächste Rendezvous mit Michael.
    Ich kam zu früh. Es heißt, in Beziehungen herrsche normalerweise ein Ungleichgewicht, und ich hatte den Verdacht, dass
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