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Die Zehnte Gabe: Roman

Titel: Die Zehnte Gabe: Roman
Autoren: Jane Johnson , Pociao
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bei uns siebzig Prozent der Lasten auf meinen Schultern ruhten. Dies lag teilweise an den Umständen und teilweise am Temperament, meinem ebenso wie Michaels. Er zog sich die meiste Zeit von der Welt zurück, ich hingegen ging mit meinen Gefühlen verschwenderisch um.
    Ich setzte mich mit dem Rücken zur Wand und beobachtete die anderen Gäste wie ein Besucher die Tiere im Zoo. Die meisten Paare waren in den Dreißigern, so wie wir: wohlhabend, gut gekleidet, höflich, wenn auch ein wenig laut. Fetzen ihrer Unterhaltung drangen bis zu mir.
    »Was sind fagioli occhiata di colfiorito , weißt du das?«
    »… schlimm, das mit Justin und Alice … reizendes Paar … was sie wohl mit dem Haus machen?«
    »Was hältst du von Marrakesch nächsten Monat, oder möchtest du lieber wieder nach Florenz?«
    Nette, normale, glückliche Menschen mit vernünftigen Jobs, einer Menge Geld und stabilen Ehen, die in geordneten, bequemen und angepassten Verhältnissen lebten. Ganz anders als ich. Ich betrachtete sie, wie sie im goldenen Licht saßen, und fragte mich, was sie wohl über mich dachten, eine Frau, die ihre beste
Unterwäsche, neue Strümpfe und Stöckelschuhe trug und darauf wartete, dass der Mann ihrer ehemals besten Freundin auftauchte.
    Vermutlich sind sie neidisch wie sonst was, flüsterte eine gehässige Stimme in meinem Kopf.
    Wohl kaum.
    Wo blieb Michael nur? Es war zwanzig nach acht, und um elf musste er zuhause sein, wie er nicht müde wurde zu betonen. Ein schnelles Abendessen, eine schnelle Nummer: Auf mehr konnte ich nicht hoffen und vielleicht nicht einmal darauf. Als ich spürte, wie die kostbaren Augenblicke verstrichen, wurde ich nervös. Bisher hatte ich mir noch nicht gestattet, darüber nachzudenken, warum er ausgerechnet das Enoteca vorgeschlagen hatte. Es war ein teures Restaurant, nicht eins, das einem spontan eingefallen wäre, jedenfalls nicht mit dem Gehalt eines Teilzeit-Dozenten, das er mit einem halbherzig betriebenen Bücherhandel aufstockte, nicht wenn man - wie Michael - auf sein Geld achtete. Ich lenkte mich von diesem Rätsel ab, indem ich beim Sommelier eine Flasche Rocca Rubia bestellte. Dann saß ich da, umklammerte mit beiden Händen den großen Kelch des Glases, als wäre es der Gral selbst, und wartete auf meinen lüsternen Sir Lancelot. Die Flüssigkeit schimmerte im Kerzenlicht wie frisches Blut.
    Schließlich stürzte er mit zerzaustem Haar und roten Wangen durch die Drehtür, als wäre er den ganzen Weg von Putney Station gerannt. Ungeduldig knöpfte er den Mantel auf und transferierte Aktentasche und schwarze Plastiktüte von einer Hand in die andere, während er sich aus den Ärmeln schälte. Dann endlich kam er manisch grinsend, doch ohne mir richtig in die Augen zu sehen, an meinen Tisch, küsste mich rasch auf die Wange und setzte sich auf den Stuhl, den der Kellner ihm zurechtrückte.
    »Tut mir leid, dass ich spät dran bin. Lass uns gleich bestellen, ja? Ich muss um -«

    »- elf zuhause sein. Ja, ich weiß.« Ich unterdrückte einen Seufzer. »Anstrengender Tag?«
    Es wäre schön gewesen, zu erfahren, warum wir hier waren, dann hätte ich wenigstens gewusst, worum es an diesem Abend eigentlich ging, doch Michael konzentrierte sich bereits auf die Speisekarte und studierte die Angebote, während er überlegte, bei welchem er wohl am meisten für sein Geld bekam.
    »Nicht wirklich«, antwortete er schließlich. »Die üblichen blöden Studenten. Sie hocken wie hirnlose Schafe vor einem und warten darauf, dass man sie mit Wissen füttert. Und der übliche Klugscheißer, der sich vor seinen Kommilitoninnen aufspielt, indem er einen Streit mit dem Dozenten vom Zaun bricht. Aber den habe ich schnell zurechtgestutzt.«
    Ich konnte mir lebhaft vorstellen, wie Michael einen zwanzigjährigen Schlaumeier erst mit seinem Blick durchbohrte und dann auf eine Art, die ihm garantiert das Gelächter der weiblichen Studenten einbrachte, gnadenlos zusammenstauchte. Wir Frauen liebten Michael nun mal. Wir konnten nicht anders. Ob es seine düsteren Züge (und auch Angewohnheiten) waren, die zweideutige Art oder der Ausdruck in seinen funkelnden schwarzen Augen, der grausam geschnittene Mund oder die rastlosen Hände - ich weiß es nicht. In dieser Hinsicht hatte ich längst die richtige Perspektive verloren.
    Der Kellner nahm unsere Bestellung entgegen, und es gab keinen Grund mehr für weitere Ausflüchte. Michael streckte die Hand aus und legte sie auf meine, als hielte er sie auf dem
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