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Die Zehnte Gabe: Roman

Titel: Die Zehnte Gabe: Roman
Autoren: Jane Johnson , Pociao
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Herz fing an zu pochen. Vielleicht hatte Michael sich die Sache mit der Trennung noch einmal überlegt, vielleicht wollte er mich sehen. Diese Möglichkeit schob ich entschlossen beiseite. Er war ein Mistkerl; gut, dass ich ihn los war. Bevor ich wieder rückfällig werden konnte, löschte ich alle Nachrichten. Sollte etwas Wichtiges dabei gewesen sein, müsste sich der Anrufer eben erneut melden, sagte ich mir. Ich wusste genau, dass sich meine Entschlossenheit in Luft auflösen würde, sobald ich Michaels Stimme hörte.
    Ich ging ins Schlafzimmer, wo noch immer dasselbe Chaos herrschte wie bei meiner Abreise: ein ungemachtes Bett und überall verstreute Klamotten. Ich räumte auf, füllte die Waschmaschine und ging zurück, um das Bett zu machen.
    Das Buch, das mir Michael geschenkt hatte, lag zwischen den zerwühlten Laken. Es fühlte sich wunderschön an, sein weicher Kalbslederumschlag war warm, als wäre er noch lebendig. Ich
schlug es aufs Geratewohl auf, blätterte das alte Papier vorsichtig um und stieß auf eine Stickereivorlage: ein zartes, wiederholtes Rankenmotiv, das für einen schwarzen Kreuzstich auf weißem Grund bestimmt war und sich, so der Autor, »am beßten für einen Schal, ein Mieder oder den Saum eines Schnupftüchleins« eignete. Der Rest seiner Anweisung verbarg sich hinter einem störenden, kreuz und quer verlaufenden Durcheinander von Bleistiftmarkierungen. Ärgerlich hielt ich das Buch in den goldenen Schein der Nachttischlampe und betrachtete es mit zusammengekniffenen Augen.
    Irgendwer hatte mit einer winzigen, archaischen Handschrift die ganze Seite vollgekritzelt. Das lange ∫ für s und solche Sachen, schwer zu lesen und stellenweise verschmiert oder verblichen, aber nach allem, was ich erkennen konnte, hatte der Text überhaupt nichts mit Stickerei zu tun, es sei denn, der Autor hatte eine Vorliebe für Muster, bei denen es um Blut und Tod ging. Ich holte die Lupe aus dem Schreibtisch, nahm mir ein Notizbuch und einen Bleistift und wandte mich dem Titelblatt zu. Dann begann ich mit einer Art Übersetzung dessen, was ich gefunden hatte.
    Dieser Tag, der 27. Mai im Jahr unseres Herrn 1625, markiert den traurigen Tod unseres Königs Jakob und das 19. Jahr der Geburt Seiner Dienerin Catherine Anne Tregenna & dafür muß ich dankbar sein & für das Geschenk dieses Büchleins & den Schreibstift aus Graffit von meinem Vetter Robert, in dem ich, wie er sagt, meine eigenen Muster und Entwürfe festhalten kann. Das werde ich tun, doch wie meine Herrin, Lady Harris von Kenegie, werde auch ich meine Gedanken hier niederlegen, denn das sei eine gedeihliche Pflicht, sagt sie & eine Aufgabe für den Geist, um mich im Briefeschreiben zu üben …

VIER

    CATHERINE
    Juni 1625
     
    M atty weckte sie kurz nach Morgengrauen. »Komm mit zum Salon«, sagte sie. »Jack Kellynch ist unten, mit Thom Samuels und deinem Vetter Rob.«
    »Robert?« Cat, noch nicht ganz wach, blinzelte und richtete sich mühsam auf. Ein fahles Licht stahl sich durch die Vorhänge, die sie aus einem alten Unterrock gemacht und vor das zugige Dachfenster gehängt hatte. »Was macht Rob hier mit diesen Spitzbuben?«
    Matty verzog das Gesicht. »Sag so was nicht, es sind gute Jungs.«
    Die Kellynch-Brüder fuhren mit einem Boot von Market Jew aus auf Sardinenfang. Manchmal schlossen sie sich den Ringwadenfischern an und kamen mit Netzen voller Fisch zurück; häufig aber verschwanden sie auch wochenlang, und niemand wusste, wohin. Wenn sie schließlich wieder auftauchten, waren sie erheblich reicher, grinsten schlau und zwinkerten den Mädchen zu, während sie mit ihrem funkelnden fremden Gold in der Tasche klimperten. Matty himmelte Jack an; Cat dagegen hielt ihn für einen Schuft und einen Dummkopf, allerdings auch einen ansehnlichen. Thom Samuels hatte nicht einmal diesen Vorteil; dafür konnte er sich einer einzigen Augenbraue rühmen, die schwarz und finster quer über die Stirn verlief. Sie lachte. »Schmuggler und Banditen, alle beide.«
    Doch Matty war bereits zur Tür hinaus. Cat hörte ihre
schweren Schritte auf den knarrenden Dielen draußen und dann die Treppe hinabpoltern. Sir Arthur und Lady Harris hatten ihre Zimmer im ruhigen Westflügel des Hauses; das Personal war im Ostflügel untergebracht, wo der Lärm vom angrenzenden Hof am größten war. Hätte Matty sie nicht geweckt, wären es die Hunde und der Hahn gewesen. Sie sprang aus dem Bett. Ihr steifes, dunkelgrünes Arbeitskleid und das Korsett hingen über der
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