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Die Zehnte Gabe: Roman

Titel: Die Zehnte Gabe: Roman
Autoren: Jane Johnson , Pociao
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einem staubigen kleinen Dorf im Süden von Marokko. Und doch hatte sie eine solche Kraft in sich, dass sie ihr sicheres, geordnetes Zuhause aufgab und ein neues Leben in der Wildnis begann. Um das zu schaffen, muss sie Kontakt zu den Kel Asuf gehabt haben, eine von ihnen geworden sein oder sie zumindest auf ihre Seite gebracht haben, denn sie haben ihr geholfen, unser Volk zu prägen. Ihre Kraft hat sie über die weibliche Linie weitergegeben, wie alles Wertvolle, also wird sie auch in dir sein. Daran muss ich glauben, sonst werden wir Amastan für immer verlieren. Wirst du ihm helfen? Bei ihm sitzen, ihm Geschichten erzählen, Gedichte und Zauber für ihn machen? Besänftige die Geister und bring sie auf deine Seite. Versuch ihn dazu zu überreden, dieses Ding in seiner Hand loszulassen. Willst du das tun?«
    »Ich kann es versuchen«, sagte Mariata, obwohl ihr davor graute. Amastan war blutverschmiert und ohne seine Braut ins Dorf zurückgekehrt. Sie sollte nicht auf den Tratsch der Leute hören. Doch plötzlich kam ihr eine alte Legende aus dem Aïr in den Sinn, die sie häufig des Nachts am Feuer gehört hatte: die Blutige Hochzeit von Iferouane. Eines Tages war zur Begeisterung der Mädchen ein gut aussehender, reich gekleideter Fremder in das Dorf gekommen und hatte sich im Lauf der nächsten Wochen das hübscheste auserwählt und ihm mit schönen
Worten den Hof gemacht. Als die Eltern ihr Einverständnis gaben, hatten sie Hochzeit gefeiert. In der ersten Nacht der Feierlichkeiten jedoch war im Zelt der Frischvermählten ein großer Tumult und lautes Klagen der jungen Braut zu hören gewesen. Die Alten hatten den Kopf geschüttelt: Es war unbesonnen vom Bräutigam, schon in der ersten Nacht darauf zu drängen, dass sie ihm zu Willen war. Ein Kind, das in einer Mondnacht gezeugt wurde, war sein Leben lang verflucht. Das konnte zu keinem guten Ende führen. Und tatsächlich, als eine der alten Frauen am nächsten Morgen kam, um dem Paar das Frühstück zu bringen, erwartete sie ein entsetzlicher Anblick: ein Zelt voller Blut, Haar und Knochen, die Brautleute aber waren verschwunden. Die Brüder der Braut fanden die Spur eines großen Raubtiers und folgten ihr zu einer Höhle in den Bergen, wo sie es nach einem erbitterten Kampf töteten. In seinem Magen fanden sie die Reste ihrer Schwester, doch der Bräutigam blieb verschwunden. Schließlich kamen sie darauf, dass der gut aussehende Fremde ein Formwandler gewesen sein musste, ein Geist der Wildnis, dessen wahre Gestalt sich erst in der Hochzeitsnacht offenbart hatte.
    Unwillkürlich fragte sie sich: War Amastan ebenfalls ein solches Ungeheuer? Hatte er, von djenoun besessen, seine Geliebte getötet? Sie wollte es gar nicht wissen, trotzdem musste sie es herausfinden.
     
    Rahma nahm sie mit zu ihrem Zelt. Es war wunderschön, aus mehr als hundert Ziegenfellen gemacht.
    »Ich habe es mitgebracht, als ich mich von Moussa ag-Iba scheiden ließ«, sagte sie, noch bevor Mariata fragen konnte. »Das Zelt, den zwölfjährigen Amastan und einen alten Esel, der schon längst tot ist. Der verdammte marabout hat entschieden, dass ich meinen Brautpreis zurückgeben musste, obwohl ich das Recht hatte, ihn zu behalten. Er erklärte, es sei Gottes Strafe, ich müsse hinnehmen, dass Moussa sich eine zweite Frau suchte,
denn es sei nicht recht, dass ich mich wegen einer solchen Lappalie von ihm scheiden ließe. Ich zeigte ihm die blauen Flecken auf meinen Armen und Beinen, doch er grinste nur und erklärte, hin und wieder müssten Männer ihre Frauen schlagen, um ihnen Anstand beizubringen. Ich musste auf alte Methoden zurückgreifen. Der marabout ist inzwischen tot, und Moussa hat große Schmerzen im Unterleib, wie man mir zugetragen hat.«
    Mariata starrte sie an: »Du hast ihn verhext?«
    »Ich habe sie alle beide verflucht. Aber Moussa war immer ein starker Mann. Er hat lange durchgehalten.«
    Mariata erschauerte innerlich. »Wenn du die Geister beeinflussen kannst, warum kannst du dann nicht auch Amastan heilen?«
    Rahma lächelte bitter. »Es gibt so etwas wie ausgleichende Gerechtigkeit. Ich glaube, das ist die Art der Geister, es mir beizubringen.«
     
    In der nächsten Zeit zog Mariata jeden Tag für eine Weile ein weißes Gewand und eine Kopfbedeckung an, die sie von Tana ausgeliehen hatte. Es sollte Glück bringen und ein Gegengewicht zu der Düsterkeit bilden, die Amastan beherrschte. Dann setzte sie sich neben ihn, dachte sich zuerst still ein Gedicht aus und trug
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