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Die Zehnte Gabe: Roman

Titel: Die Zehnte Gabe: Roman
Autoren: Jane Johnson , Pociao
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es ihm dann laut vor. Er schien nichts gegen ihre Anwesenheit zu haben. Tatsächlich sah es so aus, als nähme er nicht die geringste Notiz von ihr. Es gab weder Tränen, atemberaubende Blicke noch irgendeinen Hinweis auf die Geister, die von ihm Besitz ergriffen hatten. Falls er ihre Gedichte und Geschichten verstand, so reagierte er in keiner Weise darauf, und nach einer Weile fand sie seine Gegenwart erholsam, ja, sogar inspirierend. Es dauerte nicht lange, und sie verfasste einige der besten Gedichte ihres Lebens, mit komplizierten Akrostichen, deren Zeilen sie mit reiner Magie tränkte. Manche zeichnete sie mit einem Stock in den Sand, doch die meisten behielt sie im Kopf. Keins schien eine Wirkung auf den Patienten zu haben.

    Tag für Tag nahm sie das unberührte Essen wieder mit, das sie am Tag zuvor gebracht hatte. Wie konnte er leben, ohne zu essen? Er musste sich von anderen Stoffen ernähren, von etwas Unnatürlichem, vielleicht sogar Gottlosem. Dann entdeckte sie eines Tages, dass die Schale umgekippt und die Milch in der Erde versickert war. Das war ein Tabubruch, außerdem ein sicheres Zeichen dafür, dass hier Geister ihr Unwesen trieben. In der Hoffnung, die bösen Einflüsse abzuwehren, zeichnete sie einen Kreis von Zauberformeln um die Schale.
    Ein paar Tage später setzte ihre Periode ein. Ein marabout hätte sie in ihr Zelt verbannt, aber Rahma lachte nur. »Jetzt bist du am stärksten: Blut ist mächtiger als die Kräfte der Geister.« Und wirklich, als sie Amastan an diesem Tag seine tägliche Schale Reis mit Milch hinstellte, hob er sie auf und aß. Aber er tat es mit den Fingern der linken Hand, abscheulich.
    Die ganze Zeit über hielt er die rechte geschlossen, und wenn sie sie betrachtete, fiel ihr auf, dass die Knöchel weiß hervortraten, als verkrampfte er sie unter ihrem Blick noch mehr.
    Inspiriert von den uralten Inschriften auf dem Felsen, wo Rahma und sie in der Nacht vor ihrer Ankunft im Dorf Rast gemacht hatten, verfasste Mariata eines Tages folgendes Gedicht, das sie laut rezitierte.
    Töchter unserer Zelte, Töchter Moussas
Denkt an den Abend unseres Aufbruchs
Die Sättel der Frauen liegen auf den Kamelen bereit
Jetzt kommen sie, prächtig in ihren Gewändern
Darunter Amina, mit glänzenden Augen
Und Houna, mit einem neuen Tuch um den Kopf
Die schöne Manta, frisch wie eine junge Palme...
    »Nein!«
    Amastans Schrei war ohrenbetäubend, herzzerreißend. Mariata sprang auf, zu Tode erschrocken beim Anblick des von einem
entsetzlichen Gefühlsausbruch verzerrten Gesichts. Halbwegs erwartete sie, Reißzähne aus seinem Mund, Krallen an seinen Händen oder ein Fell auf seiner Haut wachsen zu sehen, doch nachdem er diesen einen wilden Schrei ausgestoßen hatte, sackte er erschöpft in sich zusammen. Im gleichen Moment öffnete er die rechte Faust, und sie erhaschte einen kurzen Blick auf das Objekt darin.
    »Manta, o Manta«, flüsterte er. Zumindest glaubte Mariata das gehört zu haben. Die Augen schlossen sich vor Schmerz, und er presste das Ding in seiner Hand an die Stirn.
    Es war ein Amulett, wie sie jetzt sah, ein massives viereckiges Ding mit einem erhabenen Mittelteil, verziert mit Steinen aus Karneol und eingeritzten Mustern. Etwas war darauf eingetrocknet, wie Rost.
     
    Aus dem Englischen von pociao

Die Originalausgabe erschien 2008
unter dem Titel »Crossed Bones« bei Viking, London,
und zeitgleich unter dem Titel »The Tenth Gift«
bei Crown, New York.
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
    1. Auflage
    Taschenbuchausgabe August 2010
    Copyright © der Originalausgabe 2008
by Jane Johnson
    Published in agreement with the author,
c/o BAROR INTERNATIONAL, INC., Armonk, New York, U.S.A.
    Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2008
by Page & Turner/Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
     
     
    Redaktion: Kerstin von Dobschütz
    BH · Herstellung: Str.
     
     
    eISBN: 978-3-641-06023-7
     
    www.goldmann-verlag.de
    www.randomhouse.de
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