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Die Zehnte Gabe: Roman

Titel: Die Zehnte Gabe: Roman
Autoren: Jane Johnson , Pociao
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warten, bis sie den Patienten gesehen hatten.
    Sie kamen an einem Gehege vorbei, wo Hühner im Sand scharrten und nach Käfern pickten. Mariata war überrascht: Nomaden hielten normalerweise keine Hühner, denn die Tiere konnten in der Wüste weder gehen noch fliegen, und die Kamele und Esel waren immer reichlich beladen, auch ohne zusätzliche Hühnerkäfige. Außerdem hatte sie bemerkt, dass es eine Reihe von festen Lehmhütten im Lager verstreut gab, einige konnten sich sogar selbst angepflanzter Vegetation rühmen: ein Feigenbaum hier, ein paar Tomatensträucher da.
    »Treibt dein Volk keinen Handel mehr?«, fragte sie neugierig.
    »Einige tun es. Es gibt immer noch Männer, die mit den Karawanen ziehen, aber vor zwei Jahren haben wir eine ganze Karawane an die Wüste verloren, und im letzten Jahr hat eine Seuche mehrere Kamele hinweggerafft. Infolge von Armut und Rastlosigkeit haben viele unserer harratin und Sklaven uns verlassen und sind in die Städte gezogen. Die neue Regierung bestärkt sie noch darin: Das Leben ist hart und wird immer härter. Unser Volk braucht junge Männer wie Amastan heute mehr als
jemals in unserer Geschichte zuvor. Ohne ihn und andere wie ihn sind wir dazu verdammt, sinnlos dahinzuvegetieren.«
    Mariata war entsetzt. »Aber wir sind die Herren der Wüste, nicht die armen Fellachen.«
    »Unser stolzes Erbe wird keinerlei Bedeutung mehr haben, wenn es so weitergeht wie jetzt.«
    Der letzte Dorfbewohner, dem sie begegneten, war eine Gestalt mit einem locker gewickelten tagelmust , der zu ihrem Schrecken die untere Hälfte des Gesichts freiließ, einer Haut so schwarz wie Kohle und schweren silbernen Ohrringen, die beide Ohrläppchen in die Länge zogen. Dieser seltsame Mensch ergriff jetzt Mariatas Hände und hielt sie fest. Mariata erklärte sich den Mangel an Zurückhaltung mit der Tatsache, dass er eindeutig nicht dem Volk der Verschleierten angehören konnte, und zwang sich, ihre Hände nicht zurückzuziehen. Aber sie hätte es ohnehin nicht gekonnt, selbst wenn sie es gewollt hätte, denn der Griff des Fremden war bemerkenswert fest. »Ah, die weit gereiste Tochter des Hoggar. Willkommen, willkommen im Teggart.« Seine Stimme war so hoch wie die eines Knaben, und als er die Hand, die er hielt, an eine Brust presste, fühlte sich diese merkwürdig weich und weiblich an. Jetzt war Mariata vollends verwirrt.
    »Danke«, sagte sie, nickte höflich und versuchte vergeblich, die Hände frei zu bekommen.
    »Hör zu, Kleines, die Geister nehmen vielerlei Gestalt an. Lass dich nicht von der düsteren Schönheit der Kel Asuf verführen. Ich sehe etwas Wildes in dir, und Wildheit zieht Wildheit an. Ich hoffe, dass du deinen Kopf beisammenhast.«
    Mit diesen verwirrenden Worten ließ die seltsame Person endlich Mariatas Hände los und ging ihres Weges.
    Mariata starrte ihr nach. »Was meint sie? Ist sie überhaupt eine sie?«
    »Tana?«, lächelte Rahma. »Wir haben kein Wort für das, was Tana ist. Ich habe gehört, wie Fremde sie als Mannweib bezeichneten,
aber das wird ihr nicht gerecht. Gott hat sie doppelt gesegnet, sagen wir es so. In ihr herrscht eine vollkommene Symmetrie zwischen den Geschlechtern, und sie ist eine höchst bemerkenswerte Person. Manchmal weiß sie mehr als andere Menschen. Sie war die Tochter unseres Schmieds, als das Dorf noch reich genug war, um einen eigenen Schmied zu haben. Nach seinem Tod ist sie bei uns geblieben und hat die Aufgaben eines enad übernommen.«
    Die inadan waren Schmiede und Meister mystischer Rituale: Ein beim Stamm lebender Schmied stand den Zeremonien vor, tötete die Ziegen, die als Opfergabe bestimmt waren, herrschte über das Feuer und bearbeitete Dinge aus Eisen, die kein Kel Tagelmust gefahrlos berühren konnte, ganz zu schweigen von einer Frau.
    »Kann sie Amastan nicht heilen?«
    »Sie hat ihn ein Mal nach seiner Rückkehr aufgesucht, seitdem kommt sie nicht mehr in seine Nähe.«
    Mariata dachte schweigend darüber nach. Nach einer Weile fragte sie: »Und was meinte sie mit ›den Kopf beisammenhaben‹?«
    »Das sagen wir manchmal über Schüler der Medizin, wenn sie ihre Ausbildung beendet und ihr Wissen vervollständigt haben.«
    Mariata spürte einen erneuten Anflug von Angst. »Aber ich habe überhaupt keine medizinische Ausbildung! Ich habe nie etwas gelernt!«
    »Es gibt Dinge, die man nicht lernen kann. Gaben von oben, Fähigkeiten, die man im Blut hat.« Rahma nahm sie am Arm, als fürchtete sie, Mariata könnte davonlaufen.
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