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Baltasar Senner 03 - Busspredigt

Baltasar Senner 03 - Busspredigt

Titel: Baltasar Senner 03 - Busspredigt
Autoren: Wolf Schreiner
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1
    B altasar hörte – nichts. Es fehlte etwas, versteckt zwischen den Geräuschen, die sich von draußen durch die Mauern mühten und die Stille der Kirche infizierten. Er hätte nicht sagen können, was genau fehlte, aber etwas drängte an die Oberfläche seines Bewusstseins wie Sauerstoffperlen im Wasser. Das brachte sein inneres Gleichgewicht durcheinander, einem Kreisel gleich, der aus der Drehachse geraten war und nun torkelte und taumelte.
    Er verteilte die Gesangbücher in den Bänken, entfernte Wachsflecken von den Messinghaltern, füllte Weihwasser nach. Dem Knurren seines Magens nach zu urteilen musste es längst Mittag sein. Im Pfarrheim erwarteten ihn die Reste vom Vortag, Kartoffelsuppe mit Speck und Zwiebeln, aufgewärmt, dazu eine Semmel, ebenfalls von gestern.
    Wie spät es wohl sein mochte? Baltasar trug keine Armbanduhr, aus Prinzip nicht. Er ging in die Sakristei und schaltete das Radio an, bis eine Zeitansage kam.
    Viertel nach zwölf.
    Schlagartig wurde ihm bewusst, was fehlte: Die Kirchenglocke hatte um zwölf Uhr nicht geläutet. Baltasar ging zum Steuerkasten für das Geläut und überprüfte die Zeitschaltuhr. Alles war korrekt eingestellt, die Sicherungen in Ordnung. Erst im vergangenen Jahr hatte er die elektrische Anlage überprüfen lassen, obwohl die Handwerkerrechnungen ein schmerzliches Loch in die Gemeindekasse gerissen hatten. Die Einheimischen arbeiteten heutzutage auch nicht mehr für den Gotteslohn, selbst wenn sie fleißige Kirchgänger waren, wie die meisten hier im Ort. Nicht einmal ein Rabatt war drin gewesen.
    Vielleicht war die Mechanik des Antriebs oder der Elektromotor kaputt. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als selbst nachzusehen. Die Tür zum Kirchturm stand offen. Hatte er vergessen, sie abzuschließen? Er konnte sich nicht erinnern, wann er den Turm zuletzt betreten hatte. Die Holztreppe knarrte unter seinen Füßen, als er an unverputzten Wänden vorbei nach oben stieg. Die Treppe endete in einem mit Brettern ausgelegten Zwischenstock. Eine Leiter führte zu einer Falttür in der Decke. Schmutzige Scheiben filterten mattes Licht, im Halbdunkel waren die Stufen fast nicht zu erkennen.
    Baltasar ertastete mit den Füßen die Sprossen. In Zeitlupe hangelte er sich nach oben und drückte mit der Schulter gegen das Holz. Die Tür öffnete sich mit einem Quietschen, schwang nach oben auf und krachte gegen irgendetwas. Staub rieselte auf Baltasar herunter und vernebelte ihm die Sicht. Er hustete.
    Das sind die Begleiterscheinungen, wenn man in einer kleinen Gemeinde im Bayerischen Wald seinen Dienst tut, dachte er, man muss selbst Hand anlegen. Für größere Ausgaben fehlte das Geld, die Diözese in Passau hielt ihre Angestellten kurz.
    Er seufzte.
    Die oberste Plattform des Kirchturms bestand aus einer unübersichtlichen Ansammlung von Balken, Bretterverschlägen und Metallgestängen. Der Boden war mit Taubendreck übersät. In der Mitte des Raumes hing die »Dicke Martha«, die Bronzeglocke, die schon etliche Jahrhunderte überstanden hatte und noch immer rein und hell klang. Das kleine Exemplar daneben, das aussah wie das Baby der großen, war das Totenglöckchen, es wurde nur zu Beerdigungen geläutet.
    Baltasar untersuchte die Halterungen. Soweit er es als Laie beurteilen konnte, schien alles in Ordnung zu sein. Oder stand der eine Balken vielleicht etwas schief? Er befühlte die Zahnräder, kontrollierte die Stromleitungen, klopfte gegen den Elektromotor. Nichts tat sich.
    Er ging hinüber zur anderen Seite der Plattform. Ein Geräusch ließ ihn hochfahren. Hatte sich da im Schatten etwas bewegt? Direkt vor ihm flog ein Vogel auf. Er zuckte zurück. Jetzt ließ er sich schon von kleinen Tieren erschrecken.
    Auf der anderen Seite versperrten leere Bierkisten und einige zerbrochene Hocker den Weg. Es sah aus, als ob jemand hier oben ein Picknick veranstaltet hätte. Baltasar stieg über die Hindernisse und arbeitete sich bis zur Ecke vor. Plötzlich hörte er hinter sich ein Knacken. Als er sich umdrehen wollte, traf ihn ein Schlag auf den Kopf.
    Das Letzte, was er spürte, war etwas Nasses, das über seine Schläfe lief. Das Letzte, was er hörte, war das Totenglöckchen. Das Letzte, was er dachte, war, wie hässlich die Glocke doch klang.
    2
    D unkelheit. Stille.
    Ein Pochen. Es war wie in einem Bergwerk, tief verschüttet irgendwo am Mittelpunkt der Erde. Der Tod. Wo blieb der Sensenmann mit seinem Knochenschädel, wie er auf alten Gemälden immer zu sehen war?
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